Weinrache
dritte Möglichkeit. Arthur könnte ebenfalls zum Opfer geworden sein. Das Opfer einer Entführung.«
Norma ließ sich Zeit mit der Antwort. »Glaubst du, darüber habe ich nicht nachgedacht? Bei allem Respekt: Arthur ist wohlhabend, aber nicht reich genug, um für professionelle Entführer interessant zu sein.«
»Wer sagt denn, dass es Profis sein müssen? Und warum melden sie sich nicht?«
Norma wusste, worauf er hinaus wollte. Wenn Arthur tatsächlich entführt worden war, musste etwas schief gelaufen sein.
Lutz erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort.
9
Mittwoch, der 23. August
Am Mittwoch zeigte sich noch immer keine Spur von Arthur. Norma hatte inzwischen bei den Taxizentralen nachgefragt. Keine der Nachtfahrten ließ sich mit Arthur in Verbindung bringen. Er musste einen Privatwagen gestoppt haben. Ihre Erkundigungen bei Freunden und Bekannten waren erfolglos geblieben. Niemand wusste, wo Arthur sich aufhalten könnte. Auch Lutz hatte alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Er rief am frühen Nachmittag an, als Norma mit dem Wagen auf der Wilhelmstraße unterwegs war, und klang ausgesprochen besorgt. Ein ungewohnter Tonfall bei ihrem sonst so ausgeglichenen Schwiegervater.
Er komme geradewegs von der Polizei, erklärte er ohne Umschweife, und habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben. »Können wir uns sehen?«
Ob es ihm in einer Stunde passe?, entgegnete Norma. Sie war auf dem Weg zu Bruno Taschenmacher, um ihren Lohn abzuholen, und wollte anschließend einige Einkäufe erledigen. Lutz war einverstanden und schlug als Treffpunkt das ›Maldaner‹ vor, Wiesbadens ältestes Café im Zentrum der Stadt.
10 Minuten später parkte Norma den Fiesta im Eigenheim, einer vor mehr als 100 Jahren gegründeten Siedlung, deren einst bescheidene Häuser zu stattlichen Wohnhäusern um- und ausgebaut worden waren. Die Baulücken hatte man mit aufwendigen Einfamilienhäusern geschlossen, die sich gegen vereinzelt stehende Villen im Jugendstil und Historismus zu behaupten versuchten. Die Lage am Stadtwald und die gleichzeitige Nähe zur Stadtmitte machte die Siedlung so attraktiv, und Bruno hatte die Chance genutzt, als vor einigen Jahren eine Villa zum Verkauf stand. Sie stammte aus dem Besitz eines russischen Künstlers, der wie viele seiner Landsleute zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts in Wiesbaden eine neue Heimat gesucht hatte. Einen deutlichen Hinweis auf die Herkunft des Erbauers lieferten die Zwiebeltürmchen über den Erkern. Wie eine Trutzburg zwängte sich die düstere Villa in die moderne Nachbarschaft und schien lauthals den Status ihres Besitzers zu verkünden: Hier wohnt einer, der es geschafft hat!
Norma drückte auf die Klingel neben dem geschmiedeten Tor und begutachtete, während sie wartete, aus beruflicher Neugier die Kameras und die Bestandteile der Alarmanlage, die sie an der Fassade entdeckte. Bruno sammelte Kunst, vor allem zeitgenössische Kunst: Gemälde und Skulpturen. Arthur hatte ihm viele Werke vermittelt und sich gegenüber Norma darüber mokiert, dass Bruno nicht kaufe, was ihm gefiele, sondern seine Entscheidungen nach den Kriterien teuer und nachgefragt fälle. Wenn er mit seinen Anschaffungen den Geschmack potenzieller Einbrecher traf, hatte er allen Grund zur Wachsamkeit. Sein Haus war gefüllt wie ein Museum. Sie kannte die Ausstattung von ihren Besuchen in den vergangenen Jahren; meist Einladungen zu Abendessen in geselliger Runde. Brunos zweite Leidenschaft galt der Jagd. Dafür reiste er ins Ausland: Kanada, Alaska, Rumänien. Als man sich erzählte, Bruno habe einen riesenhaften Bären geschossen, machte sich Norma darauf gefasst, in der Diele einem ausgestopften Raubtier zu begegnen. Doch kurz darauf ging Agnieszka fort, und Bruno zog sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Falls er gelegentlich die Freunde einlud, war sie seit der Trennung von Arthur aus dem Kreis ausgeschlossen. Bruno schien ihr den Alleingang sogar stärker zu verübeln als Arthur selbst. Sie war immer noch verwundert, dass er sie für das Weinfest eingestellt hatte.
Nichts rührte sich in der Villa, und Norma klingelte ein zweites Mal. Im benachbarten Garten schlug ein Hund an. Viele Leute, darunter auch frühere Kollegen, behaupteten, ein Hund schütze besser als jede Alarmanlage, dachte Norma und musste lächeln, als ihr einfiel, dass selbst ein Hund nicht davor gefeit war, die Begehrlichkeit eines Diebes zu wecken. So wäre Diane Fischers Pekinesenhündin auf diesem Weg einmal beinahe
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