Weinzirl 03 - Kuhhandel
von Thusis nach Chiavenna. Sie hat mir geraten, da mal mitzugehen.
Ein Weg über den Splügenpass, dort, wo die Säumer ihr Leben gelassen haben. Ein
Weg durch die berüchtigte Via Mala, wo Handläufe in die Felsen geschlagen sind,
damit, wenn das Pferd abstürzte, zumindest der Ritter am Leben blieb. Ein Weg
durch die Cardinello-Schlucht, die Hölle, wenn es glitschig ist. Ein Weg, den
seit Jahrtausenden Menschen begangen haben. Es gibt dort Schalensteine aus der
Megalithzeit, verstehst du? Damals schon haben Menschen Kunst geschaffen, oder
das Ganze diente der Astronomie. Wer weiß das schon? Ich will es gar nicht
wissen, will den Zauber nicht brechen. Klar, da gibt es Leute, die sagen,
gelangweilte Hirten hätten die Kreise und die Zeichnungen von Tieren in die
Steine geritzt. Aber das ist Quatsch – diese Steine stehen an Orten so
durchdringender Kraft, dass du es körperlich spüren kannst. Ich bin wirklich keine
Eso-Tante, aber dieser Magie kann man sich nicht entziehen. Der Weg hat mich so
fasziniert, dass ich für Andi als Hilfsguide einige Gruppen übernommen und
geführt habe.« Sie lächelte, und erstmals schaute Gerhard ihr in die Augen. »Du
siehst, der Tourismus lässt mich nicht los. Ich bin den Weg zehnmal gegangen,
immer neu verzaubert. Und es war mit jedem Mal so, dass meine Batterien sich
weiter aufgeladen haben. Ich lag bäuchlings auf einem dieser Steine, und es
war, als würde Wärme durch mich hindurchfließen. Gänsehautgefühle waren das!
Ich weiß, das klingt jetzt doch esoterisch oder auch nur verkitscht. Aber es
gibt den Genius Loci. Und diese Wochen waren unendlich wichtig für mich. Sie
haben mich gerettet. Vor mir selbst, vor der Angst. Und noch eins: Diesen Weg
zu begehen ist nicht nur eine Wanderung abseits der Asphalt-Lebensadern, auf
denen wir sonst dahinrasen. Es ist eine Reise und mehr noch eine Zeitreise. Ich
habe begriffen, dass du wissen musst, wo du herkommst, um zu wissen, wo du
hinwillst. Und so hab ich meine Mutter besucht. Sie ist in einem Heim am
Bodensee. Ich hab sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen, seit klar wurde,
dass sie niemals mehr in der Realität, in meiner, in der allgemein gültigen
Realität auftauchen würde. Aber diese Tage auf der Via Spluga haben mir
gezeigt, dass es mehr als eine Realität gibt. So, das war nun eine lange Rede.«
Jo versuchte noch ein Lächeln.
Gerhard erinnerte
sich: ein Autounfall, Jos Vater war ums Leben gekommen. Jos Mutter hatte den
Unfall verschuldet. Sie waren vom Bodensee gekommen, und sie war betrunken
gefahren. Zu viele Bodensee-Obstler, und hinter Eglofs, in der Höhe Staudach,
war sie in einer lang gezogenen Kurve von der Straße abgekommen. Sie war aus
dem Auto geschleudert worden, weil sie nicht angeschnallt gewesen war. Ihr
Vater war an den schweren inneren Verletzungen noch auf dem Weg ins Krankenhaus
gestorben. Jos Mutter hatte mit der Todesnachricht aufgehört zu sprechen. Ein
schier endloser Irrweg durch alle Instanzen von Neurologie und Psychiatrie
hatte begonnen. Nach einem Jahr hatte auch Jo darüber geschwiegen, und ihre
Freunde hatten nie mehr daran gerührt. Gerhard rückte einige Zentimeter näher
auf der Holzbank.
»Ja, eine sehr lange
Rede.« Und er wusste, dass er dabei war, Jo zu verzeihen und wieder einmal von
ihrer ungeheuren Energie mitgerissen zu werden.
»Ich war dort.
Früher war meine Mutter klug, schlagfertig, scharfzüngig, kritisch, schwierig
und so lebendig. Sie verfällt jeden Tag mehr. Ihre Sätze, nein, eher Wortfetzen
flattern davon, sie selbst vergeht wie ein verhungertes Vögelchen. Sie hat noch
vierzig Kilo Gewicht. Sie hat mich nicht erkannt, aber sie hat meine Hand
genommen. Ihre ist wie Pergament. Aber sie hat sich gefreut, das sagte auch die
nette Ärztin. Gefreut in ihrer Realität. Die wenigsten Dinge sind so, wie man
sie vordergründig sieht! Ich werde jetzt öfter hinfahren.«
Gerhard rückte
wieder einige Zentimeter näher und schwieg. Sie blickten beide starr geradeaus.
Falco stand unter einem Apfelbaum und versuchte, einen Apfel zu erwischen.
Schließlich stellte er sich auf die Hinterhand, ruderte mit den Vorderbeinen,
um die Balance zu halten, und pflückte so Apfel um Apfel. Jo lächelte. Bianchi
von Grabenstätt kam über die Wiese geschossen und setzte sich in ehrfürchtiger
Entfernung auf einen Grasbuckel und schaute dem großen Falco zu.
Postkartenidylle, ein Foto in einer Tierzeitschrift. Jo wandte ihr Gesicht
Gerhard zu.
»Du hast schon Recht
mit dem
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