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Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Titel: Weinzirl 04 - Gottesfurcht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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gerade jetzt so kurz vor
Weihnachten gekommen war. Schade, nun gab es wieder keinen, der gesagt hätte: »Karl, du hast recht gehandelt. Der Vater und der Pfarrer haben den Tod
verdient.« Es schneite. So konnte er Hansl doch nicht zurücklassen! So nicht.
Er schleifte ihn zu dem hohlen Baum, den er vorher gesehen hatte. Er setzte ihn
ab, vorsichtig. Dann holte er den Rucksack und das Fahrrad. Er zog nur einmal
seine Handschuhe aus, als er ihm die Augen zudrückte. Dann ging er und weinte.
Zum ersten Mal, seit 1967, als der Vater vor ihm in den Boden geschossen hatte.
    Für ihn gab es keine
Absolution. Aber es musste eine geben. Er beschloss, Schorschi aufzusuchen. Er
hatte ihn zum Döttenbichl bestellt. Er wollte ein Orakel, und gab es einen
besseren Platz als den Döttenbichl, diesen beredten Ort, wenn man bereit war,
den Steinen zuzuhören? Er wollte ein Orakel. Wer pfeift, der hat ein Unglück zu
erwarten. Als Schorschi kam, hatte er gepfiffen. Aus Unwohlsein, das war Karl
klar. Das hatte er früher auch getan. Aus Angst. Als Karl auf ihn zutrat,
begann Schorschi zu reden. Falsche Worte, Beteuerungen, was er alles hätte tun
wollen, wie oft er versucht hätte, ihn zu finden. Karl wollte diese Reden nicht
mehr hören. Nein, er hatte zu viele falsche Worte gehört, zu viele hatten
falsches Zeugnis abgelegt gegen ihn.
    »Warum habt ihr ohne
mich in Berlin gespielt?«, fragte Karl.
    »Na, weil wir dich
doch nicht gefunden haben.«
    »Ihr habt es nie
versucht, gib das wenigstens zu.«
    »Lass mich in Ruhe,
was willst du eigentlich von mir?«
    »Wissen, ob du mich
für einen Mädchenmörder hältst.«
    »Das ist doch alles
so lang her. Karl, du warst früher schon immer so aggressiv und eiskalt. Gegen
den Pfarrer, auch gegen uns. Ich weiß noch, wie du dich lustig gemacht hast
über mich wegen meiner Platzangst.«
    Ein jäher Stich fuhr
in Karls Herz. Er sich lustig gemacht? Er, der er Schorschi getröstet hatte,
als sie ihn aus dem Bergwerk geworfen hatten? Er wollte etwas sagen, aber da
redete Schorschi schon weiter: »Und diese dummen Sommer im Mütterheim. Du
wolltest doch immer diese Frauen anschauen, du warst doch ganz irr wegen dieser
Schlampe. Alle wussten es, dass die es mit jedem gemacht hat, damals.«
    Auf einmal war
Schorschi still. Nein, er hatte diese Reden einfach nicht mehr hören wollen.
Ein für allemal. Er war eben immer das Kamel gewesen, der Außenseiter, der Irre
… Dann sollte auch Schorschi spüren, wie irr er war. Was hatte der noch
gefleht, als er ihm die Gurgel zudrückte? Er müsse rechtzeitig zur Gans kommen.
Wer beim Weihnachtsessen fehlt, der stirbt im nächsten Jahr. Manchmal waren die
Orakel schneller.
    Am 29. klingelte bei
Karl Filleböck das Telefon. Es war Pauli! Er hatte also ihn gefunden – Karl
fühlte sich sekundenlang, als hätte er an einen Elektrozaun gegriffen und
könnte nicht mehr loslassen. Pauli sagte ihm, dass Hansl und Schorschi tot
seien. Dass er Schorschi habe treffen wollen nach Weihnachten und es so
erfahren habe. Ob er, Karli, etwas damit zu tun hätte, fragte er. Wie kam er
drauf? Pauli, Paule, Paulchen, gar nicht so dumm sein Bruder, sein Blutsbruder.
Der hatte ihn ausfindig gemacht. Als Karl Filleböck, vormals Laberbauer. Ein
Name aus einer verlorenen Welt. Aber dem Dritten im Bunde der sprechenden Tiere
war der Name noch präsent. Dem Ochsen! Ochsen sind stur und vergessen nichts.
Pauli wollte ihn im Allgäu aufsuchen, weil er an Silvester in Bayern war. Karl
konnte ihn überzeugen, sich mit ihm in Peißenberg zu treffen. Dort, wo sie
früher öfter gesessen waren mit Schorschi und Hansl, als die beiden im Bergwerk
gearbeitet hatten. Ein Bier hatten sie getrunken und gesungen.
    Karl hätte sich
gewünscht, dass er nicht käme. War doch auch der Zeitpunkt am Neujahrsmorgen so
merkwürdig! Aber er kam. Karl war längst da, das Auto hatte er oben auf der
Bergehalde verborgen abgestellt. Er war schon lange da und hatte den Gefühlen
nachgespürt, als die beiden Freunde gerade mal sechzehnjährig aus den Stollen
kamen. Er war jedes Mal froh gewesen, dass sie lebten. Es war eine gefährliche
Arbeit gewesen, vor allem für Schorschi mit seiner Platzangst. Der Schorschi,
nun, er hatte ja bald aufgegeben, auch aus Angst um seine Finger.
Künstlerfingerchen, zart und fein.
    Dann kam das Auto.
Pauli stieg aus. Er war fett geworden. Seine Augen suchten hektisch in der
morgendlichen Dämmerung nach seiner Verabredung. Karl ließ sich Zeit, bis er
plötzlich auftauchte.

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