Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Titel: Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro D'Avenia
Vom Netzwerk:
wie Zahnpasta, zu viel und alles auf einmal.
    Der Träumer wartet stumm. Er hat keine Eile, wie alle, die einem den Teppich unter den Füßen wegziehen. Also zahle ich es ihm mit der gleichen Münze heim.
    »Was würden Sie machen, wenn Ihre Freundin stirbt?«
    Diesmal sehe ich ihm in die Augen. Der Träumer mustert mich schweigend. Er hört auf zu essen. Vielleicht hat er noch nie darüber nachgedacht. Vielleicht hat ihm meine Frage nicht gepasst. Na bitte, dann kapiert er endlich mal was und hört mit seinen dämlichen Theorien auf. Er antwortet, dass er es nicht weiß und etwas dermaßen Heftiges womöglich gar nicht ertragen könnte.
    Er weiß es nicht. Es ist das erste Mal, dass der Träumer etwas nicht weiß. Das erste Mal, dass er nicht selbstgewiss und brillant ist wie eine blank gewienerte Schaufensterscheibe. Er weiß es nicht.
    »Tja, sehen Sie, genau das mache ich gerade durch, und deswegen kommt mir alles andere wie lächerlicher Schwachsinn vor.«
    Der Träumer blickt in den Himmel.
    »Beatrice.«
    Er schweigt. Dann fragt er mich, ob das das Mädchen ist, über das man in der Schule redet: das Mädchen, das an Leukämie erkrankt ist. Ich senke den Kopf, fast verletzt durch seine Worte, die jedoch leider wahr sind: das Mädchen, das an Leukämie erkrankt ist … Schweigen. Das Schweigen der Erwachsenen ist einer der größten Triumphe, die man sich vorstellen kann. Also rede ich.
    »Sie ist nicht wirklich meine Freundin, aber es ist so, als wäre sie’s. Wissen Sie, als ich Ihnen von meinem Traum erzählt habe, habe ich von Beatrice geredet. Ich weiß, dass, egal welchen Weg ich nehme, sie mich begleiten wird, und wenn sie nicht dabei ist, weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.«
    Der Träumer schweigt weiter. Wortlos legt er mir eine Hand auf die Schulter.
    »Sie ist jetzt ganz bleich. Sie hat ihre roten Haare verloren, wegen derer ich mich in sie verliebt habe. Und ich habe noch nicht einmal den Mumm gehabt, mit ihr zu reden, ihr zu helfen, sie zu fragen, wie es ihr geht. Ich bin weggelaufen, als ich sie so gesehen habe. Wie ein Schisser weggelaufen bin ich. Ich hatte geglaubt, ich liebe sie, ich hatte geglaubt, mit ihr bis ans Ende der Welt zu gehen, ich hätte alles für sie getan, sogar Blut gespendet habe ich, und dann, als ich vor ihr stehe, renne ich weg. Ich renne weg wie ein Feigling. Ich liebe sie nicht. Einer, der wegläuft, liebt nicht wirklich. Sie war klein, schutzlos und blass, und ich bin abgehauen. Ich bin das Letzte.«
    Meine letzten Worte durchbrechen eine Stahlbetonmauer, die langsam vom Bauch bis zur Kehle emporgewachsen ist und jetzt auf Augenhöhe in bleischwere, schmerzende Tränen zerbirst.
    Ich weine haltlos und mit allem Schmerz, den ich in mir trage, weil es mir gut tut, fast so, als spendete ich Blut. Ich kann weinen, wer weiß, wann mir das noch mal passiert, so endlos bescheuert ich mir dabei auch vorkomme.
    Der Träumer sitzt schweigend neben mir, seine starke Hand auf meiner Schulter. Ich bin mir peinlich. Ein Junge von sechzehn Jahren, der heult. Ich heule vor meinem Geschichts- und Philolehrer, den Mund noch eisverschmiert. Was soll’s, jetzt ist es eh zu spät. Der Damm ist gebrochen, und meinetwegen ergießen sich eine Millionen Kubikmeter Schmerz über die Welt, aber wenigstens muss ich sie nicht mehr allein mit mir herumschleppen.

N achdem er mich mindestens eine Viertelstunde hat überlaufen lassen (hinter dem Feuer der Wut verbirgt sich gut das doppelte an Salzwasser …), bricht der Träumer das Schweigen, das dem Weinen folgt wie die Stille einem heftigen Sandsturm.
    »Ich will dir eine Geschichte erzählen.«
    Er hält mir ein Papiertaschentuch hin (es riecht nach Vanille …).
    »Ein Freund von mir hatte mit seinem Vater gestritten. Er liebte ihn sehr, aber diesmal war ihm der Geduldsfaden gerissen, und er hatte ihm gesagt, er könne ihn mal. Als sie abends bei Tisch saßen, hatte der Vater versucht, mit ihm zu reden, aber er ist einfach aufgestanden und wortlos weggegangen. Er wollte ihm noch nicht einmal zuhören. Mein Freund hat sich stark gefühlt. Er spürte, dass er gewonnen hatte, dass er recht hatte. Am nächsten Tag blieb der Platz seines Vaters leer. Er hatte einen Herzinfarkt gehabt. So waren sie auseinandergegangen. Ohne ein Wort. Doch wie hätte er das wissen sollen? Seit jenem Tag kommt mein Freund über diesen Fehler einfach nicht hinweg, er schämt sich wie der übelste aller Mörder. Und weißt du, warum der Typ sich niemals verzeihen

Weitere Kostenlose Bücher