Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
nicht wie die Augen zumachen kann, aber ich glaube kein einziges Wort. Zur Hölle mit ihm. Er liest:
»4. August 1944 – Papa, Mama, der finstere Sturm des Hasses reißt mich in den Tod, dabei wollte ich nur für die Liebe leben. Gott ist Liebe, und Gott stirbt nicht. Die Liebe stirbt nicht …«
Der Träumer macht eine Pause.
»Schwachsinn!«
Ich erhebe mich wie Feuer und verbrenne die papiernen Träume, die Worte aus Stroh. Mein Ausruf trifft den Träumer hart ins Gesicht, wie die mit Nägeln beschlagene Faust eines nächtlichen Kriegers. Statt angesichts der ersten Wahrheit, die jemals in der Schule ausgesprochen wurde, sprachlos zu sein, drehen sich alle lahm zu mir um. Ich würde sie alle niederbrennen, außer Silvia. Auch der Träumer glotzt mich an, als hätte er nicht richtig gehört.
»Schwachsinn!«, wiederhole ich herausfordernd.
Mal sehen, was du machst, wenn jemand den Mumm hat, die Dinge beim Namen zu nennen und dein literarisches Kartenhaus umzublasen.
Er schweigt eine Minute. Als suchte er nach etwas, das er in sich nicht finden kann. Dann fragt er mit vollkommen ruhiger Stimme:
»Wer bist du, dass du das Leben dieses Mannes beurteilen kannst?«
Ich schieße zurück, er hat Benzin auf mein Feuer gegossen.
»Nichts als Einbildung. Das Leben ist eine leere Schachtel, die wir mit Scheißdreck vollstopfen, damit wir’s besser ertragen, aber es genügt eine Winzigkeit, und puff …«, ich halte inne und mache eine theatralische Handbewegung, die eine zerplatzende Seifenblase mimen soll, »steht man ohne was da. Dieser Mann hat sich eingebildet, für eine Sache zu sterben, von der er glaubte, sie gäbe seinem Leben einen Sinn. Schön für ihn. Dabei ist es nichts als ein Überzug, um die Pille weniger bitter zu machen. Die Schachtel bleibt trotzdem leer.«
Der Träumer sieht mich wieder schweigend an. Dann bricht er die Stille mit einem lapidaren, seelenruhigen:
»Schwachsinn!«
Sein Wort gegen meins, Schwachsinn hin oder her. Trotzdem hat er getroffen. Ehe der Träumer noch etwas sagen kann, schnappe ich mir meinen Rucksack und gehe raus. Noch immer brennt das Feuer zerstörerisch. Es kehrt nicht um, um Erklärungen zu geben.
Sollen sie mich doch rausschmeißen, mich das Jahr wiederholen lassen, mir ist es wurscht. Es gibt keine Rechtfertigung für das, was gerade passiert, und wenn es denn so ist, wieso soll ich mich dann noch bemühen? Ich bin allein und zum ersten Mal stark. Ich bin Feuer und brenne die ganze Welt nieder.
Ich rufe Niko nicht an, der würde einen Scheißdreck verstehen. Ich rufe Silvia nicht an, weil ich sie nicht mehr brauche.
Und das Bild des kleinen Mädchens ohne Haare, Beatrices Schatten, macht mir Lust zu fluchen. Ich fluche mehrmals, immer wieder, mit aller Kraft. Jetzt fühle ich mich besser. Und ich verstehe, dass Gott existiert, sonst würde ich mich nicht besser fühlen. Auf den Weihnachtsmann zu fluchen, lässt einen nicht besser fühlen. Auf Gott zu fluchen, schon.
A ls sich das Feuer legt, bin ich total kraftlos. Alle. Um mich herum Staub, Asche, Schwärze. Ich verliere mich im Netz: die Lösung aller Probleme. Es gibt Referate, Aufsätze, Filme, Lieder, Erotikkalender. Also tippe ich zwei Worte bei Google ein: Tod und Gott. Zusammen. Nicht getrennt. Zusammen. Die Seite eins Philosophen namens Nietzsche erscheint, der behauptet hat, Gott sei tot. Das wussten wir bereits: gekreuzigt. Die zweite Seite behauptet das Gegenteil: Gott ist wiederauferstanden, hat über den Tod gesiegt und die Menschen vom Tode befreit. Das ist genauso unbefriedigend, weil’s gelogen ist.
Beatrice stirbt, und man kann nichts machen. Diesmal hat das Internet auf ganzer Linie versagt. Wen juckt es denn, ob Beatrice wiederaufersteht? Ich will sie hier und jetzt, ich will mit ihr jeden Tag meines Lebens verbringen, ihr rotes Haar, ihr Gesicht streicheln, ihr in die Augen sehen, mit ihr lachen, sie zum Lachen bringen und reden und reden und reden, nichts und alles sagen. Der Tod ist eine Sache, die mich nichts mehr angeht. Jetzt muss ich mich um das Leben kümmern, und da es kurz und zerbrechlich ist, muss ich es groß und stark, voll und unzerstörbar werden lassen. Hart wie Eisen.
Nachricht von Silvia: »Lernen wir zusammen?« Ich lerne nicht mehr. Wozu. Ich antworte: »Nein, verzeih …« Silvia antwortet sofort: »Aus Schiss?« Schiss wovor??? Was soll das denn? Silvia dreht offenbar auch am Rad. Dann kommt mir ein Verdacht. Ich kontrolliere die Nachricht, die ich ihr geschickt
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