Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
gerade einen geraucht hat. Schlechtes Zeichen. Jetzt entpuppt sich die Vertretung auch noch als Bänkelsänger. Ich lache.
»Das ist alles?«
Wortlos steht die Vertretung auf und setzt sich aufs Pult.
»Das ist alles. Mein Großvater hat mir damals erklärt, dass wir anders sind als die Tiere, die nur das tun, was die Natur ihnen vorschreibt. Wir hingegen sind frei. Das ist das größte Geschenk, was uns zuteilgeworden ist. Die Freiheit erlaubt uns, etwas anderes zu werden, als wir sind. Die Freiheit gibt uns die Möglichkeit zu träumen, und Träume sind unser Lebenssaft, auch wenn sie uns manchmal eine lange Reise und die eine oder andere Tracht Prügel kosten. ›Hör niemals auf zu träumen! Hab keine Angst davor, auch wenn die anderen dich dafür auslachen‹, hat mein Großvater gesagt, ›du würdest aufhören, du selbst zu sein.‹ Ich weiß noch genau, wie seine Augen dabei leuchteten.«
Alle sitzen ehrfürchtig schweigend da, und es nervt mich, dass dieser Typ alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, obwohl ich derjenige bin, der in den Vertretungsstunden alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte.
»Und was hat das damit zu tun, dass Sie Geschichte und Philo unterrichten?«
Er sieht mich direkt an.
»Die Geschichte ist ein riesiger Topf voller wahr gewordener Visionen großer Männer, die den Mut hatten, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen, und die Philosophie ist die Stille, in der diese Träume geboren werden. Auch wenn sich die Träume dieser großen Männer manchmal als Albtraum erwiesen haben, vor allem für diejenigen, die sie ausbaden mussten. Werden Träume nicht aus der Stille geboren, verwandeln sie sich in Albträume. Neben der Philosophie, der Kunst, der Musik und der Literatur ist die Geschichte der beste Weg, um die Natur des Menschen zu ergründen. Alexander der Große, Augustus, Dante, Michelangelo … alles Männer, die ihre Freiheit nach Kräften ausgespielt, sich selbst und damit die Geschichte verändert haben. Vielleicht sitzt in dieser Klasse der nächste Dante oder Michelangelo … Vielleicht bist du das!«
Seine Augen funkeln, während er von den Helden taten normaler Männer erzählt, die dank ihrer Träume und ihrer Freiheit groß geworden sind. Ich bin beeindruckt, aber was mich noch mehr beeindruckt, ist die Tatsache, dass ich diesem Deppen zuhöre.
»Nur, wenn der Mensch nach dem strebt, was außerhalb seiner Reichweite liegt – denn genau das sind Träume –, kann er lernen, an sich zu glauben.«
Klingt nicht schlecht, aber hört sich nach dem typischen Spruch junger, idealistischer Pauker an. Ich will dich in einem Jahr sehen, dich und deine Träume! Deshalb habe ich ihn den Träumer genannt. Schön, wenn man Träume hat und auch noch daran glaubt.
»Das ist doch alles nur Gelaber.«
Ich wollte sehen, ob er es ernst meint oder sich nur in die eigene Tasche lügt, um zu vertuschen, was für eine arme Sau er ist. Der Träumer hat mir in die Augen gesehen und nach einem kurzen Schweigen gefragt:
»Wovor hast du Angst?«
Dann hat das Klingeln mich vor meinen Gedanken gerettet, die plötzlich stumm und weiß geworden sind.
I ch hab vor gar nichts Angst. Ich bin in der elften Klasse. Humanistisches Gymnasium. Meine Eltern wollten das. Ich hatte keinen Plan. Meine Mutter war auf dem Humanistischen. Mein Vater war auf dem Humanistischen. Meine Großmutter ist das Fleisch gewordene Humanistische. Nur unser Hund war nicht auf dem Humanistischen.
Es erweitert den Blick, öffnet den Horizont, lehrt dich, strukturiert zu denken, macht dich flexibel …
Und geht dir von morgens bis abends auf die Eier.
Nichts anderes. Es gibt keinen Grund, auf eine solche Schule zu gehen. Zumindest haben die Lehrer mir nie einen gegeben.
Erster Tag, zehnte Klasse: Bekanntmachung, Rundgang durchs Schulgebäude und Kennenlernen der Lehrer. Eine Art Zoobesuch: die Pauker, eine geschützte Tierart, die hoffentlich bald aussterben wird …
Dann ein paar Eingangstests, um jeden einzustufen. Und nach diesem herzlichen Empfang … die Hölle: zermalmt zu Staub und Schatten. Hausaufgaben, Unterricht, Prüfungen, dass einem Hören und Sehen vergeht. In der Mittelstufe habe ich höchstens eine halbe Stunde gelernt. Danach ging’s zum Kicken auf allem, was einem Fußballfeld ähnelte, vom Hausflur bis zum Parkplatz vor der Tür. Zur Not auf der Playstation.
In der Oberstufe ist das anders. Wenn man versetzt werden will, muss man büffeln. Ich hab trotzdem nicht viel getan, denn um was zu tun,
Weitere Kostenlose Bücher