Weiss
Vilma.
»Wo ist Vater?«, fragte Vilma und wickelte ihre schneeweißen Nackenhaare um den Zeigefinger, das war eine Angewohnheit.
Kati Soisalo wusste nicht, wie sie den Gesichtsausdruck des Mädchens interpretieren sollte. »Vater ist in Finnland. Bei sich zu Hause. Wir haben doch darüber gesprochen, dass deine Eltern seit dem Sommer nicht mehr zusammenwohnen und Vilma jetzt zwei Zuhause hat – eins bei Vater und eins bei Mutter«, sagte Kati Soisalo ganz ruhig, obwohl sie das ihrer Tochter schon Dutzende Male erklärt hatte. Vilma wollte sich fast jeden Tag vergewissern, dass der Vater nicht aus ihrem Leben verschwunden war.
Sobald Kati Soisalo an Jukka Ukkola denken musste, verdüsterte sich ihre Laune schlagartig. Sie tastete auf ihrem Unterarm und fand den blauen Fleck, der sich schon gelb verfärbt hatte. Ihr Exmann war nicht nur Leiter der Hauptabteilung der KRP, der Zentrale der finnischen Kriminalpolizei, sondern auch ein waschechter Psychopath und Narzisst, ein gefühls- und persönlichkeitsgestörter Verrückter, der sich im Laufe ihrer knapp vierjährigen Beziehung aus einem netten Gentleman in einen arroganten und gewalttätigen Tyrannen verwandelt hatte. Doch vermutlich hatte er sich gar nicht verwandelt, sondern einfach nur mehr und mehr seinen wahren Charakter gezeigt.
Nachdem sie im Juni mit Vilma aus Ukkolas Haus in Pitäjänmäki geflohen war, hatte der vollkommen jede Selbstkontrolle verloren. Durch Erpressung wollte er sie und Vilma zwingen, zu ihm zurückzukehren, er drohte damit, Beweise für ihre angebliche Beteiligung an Straftaten zu erfinden und ihrer Familie zu schaden. Obendrein war dieser Irre schon mehrmals aufgetaucht, wenn sie sich mit irgendeinem Bekannten oder Freund traf. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass dieser Idiot, der aussahwie ein Dobermann, in ihr E-Mail-Fach eingebrochen war oder ihre Telefongespräche abhörte. Wie hätte er sonst wissen können, wen sie wann und wo traf. Gott sei Dank hatten Mutter, Vater und ihre Schwester Mari zu ihr gehalten, nur durch ihre Hilfe hatte sie die letzten Monate überstanden, ohne den Verstand zu verlieren.
»Sieh mal, Mutti, Saara schleckt auch Eis.« Vilmas Worte holten ihre Mutter zurück in die Gegenwart. Kati Soisalo hatte die Zähne so fest zusammengepresst, dass ihre Kiefermuskulatur schmerzte.
»Ach Schatz, Saaras Kleid wird doch bekleckert!« Sie holte ein Taschentuch heraus und wischte erst ihrer Tochter und dann der Puppe den Mund ab.
»Wollen wir eine Weile in diesen schönen Park gehen, in dem der Teich mit den Fischen ist? Erinnerst du dich? Dort ist es viel ruhiger. Etwas zu essen haben wir im Rucksack, auch Erdbeeren.«
»Jaa!«, antwortete Vilma begeistert. Sie nahm ihre Puppe unter den Arm und griff mit der anderen Hand nach dem Buggy. Mutter und Tochter gingen zum Pile-Tor, dem Haupttor von Dubrovnik mit einer Statue des Heiligen Blasius. Das Innere Tor im gotischen Stil führte auf die Steinbrücke über den Wallgraben, der einst mit Wasser gefüllt war. Später hatte man ihn in einen Park umgewandelt. Vom Äußeren Tor liefen sie noch etwa zweihundert Meter bis zum Gradac-Park, Kati Soisalo musste den Kinderwagen die steile Treppe hinauftragen.
Aber sie wurde für die Mühe entschädigt. In dem idyllischen Park fühlte sie sich sofort viel ruhiger und ausgeglichener. Aleppo-Kiefern säumten die langen Sandwege mit schattigen Bänken, ein kleiner Springbrunnen plätscherte, in dem Teich schwammen Fische. Und man hatte einen wunderbaren Blick auf die Altstadt und auf die türkisfarbene, glitzernde Adria. Einige umgebrochene Bäume waren nach Auskunft der Angestellten in der Touristeninformation Überbleibsel des Krieges von 1991.
Vilma sauste zum Fischteich, und Kati Soisalo setzte sichauf die Steinkante am Wegesrand. Sie breitete ein Handtuch aus und legte alles für ihr Picknick zurecht: eine große Schale Erdbeeren, Schlagsahne in einer Spraydose, Brötchen, dalmatinischen Schinken, Käse aus Kuhmilch in Olivenöl, Schafskäse von der Insel Pag, Oliven, einen Tetrapak Saft mit Trinkröhrchen, eine Viertelliterflasche kroatischen Weißwein und ein Multifunktionsmesser.
»Vilma! Es ist Picknick-Zeit!« Ihr Rufen blieb jedoch ohne Wirkung, das Mädchen warf weiter voller Eifer Sand in den Teich. Plötzlich knackte hinter Kati Soisalo ein Ast, sie drehte sich um. Vielleicht ein Eichhörnchen oder ein Vogel.
Sie wollte Vilma nicht zur Eile antreiben, es tat gut, ihr beim Spielen zuzuschauen. Das Mädchen
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