Weiss
Slawen, die hier ansässig geworden waren. Beide lernten allmählich, miteinander auszukommen, bis ihre Siedlungen schließlich im 12. Jahrhundert vereint wurden. Die flache Meerenge, die vorher die Stadt teilte, schüttete man zu, und so entstand der »Stradun«, das Zentrum von Dubrovnik.
Die kleine Vilma hüpfte in der Fußgängerzone umher, interessiertan allem und nichts Böses ahnend, wie es nur ein dreijähriges Mädchen sein kann. Kati Soisalo entdeckte im Schaufenster eines Souvenirgeschäfts schöne Leinentücher, suchte eine englisch- oder deutschsprachige Erklärung, ob sie handgemacht waren, und schaute dann nach ihrer Tochter, die zwei Meter von ihr entfernt einen kleinen grauen Hund bewunderte. In dessen Augen leuchtete Interesse auf, er flitzte zur Wand eines Barockgebäudes, hob das Hinterbein und leerte seine Blase.
Auf dem Stradun waren hunderte Touristen unterwegs, man hörte das Stimmengewirr, laute Rufe und das Klappern der Absätze auf den weißen Marmorplatten der Straße. Der Sonnenschein hatte die Erinnerung an den Regenguss vom Vortag längst getilgt. Eine Reisegruppe eilte vorbei, die Japaner knipsten hastig ein Foto nach dem anderen, als fürchteten sie, die Sehenswürdigkeiten könnten jeden Augenblick verschwinden. Eine betagte Einheimische, die ein schwarzes Kleid und ein schwarzes Kopftuch trug, hob sich im Meer der Touristen mit ihren Shorts und Sandalen ab wie ein Tropfen Öl in Wasser. Das Mütterchen schien nicht zum Straßenbild zu gehören und war doch sicher schon im sozialistischen Jugoslawien unter Josip Broz Tito und auch bereits während der italienischen und deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg auf den Steinplatten des Stradun gelaufen. Kati Soisalo ärgerte es, dass die kroatischen Männer ihr Interesse für eine blonde Touristin wie sie ohne jede Hemmung zeigten, obwohl sie doch mit ihrem Kind spazieren ging. Ein Mann fehlte ihr derzeit etwa so sehr wie die Beulenpest.
Sie beschloss, kurz in den Souvenirladen hineinzugehen, und wandte sich Vilma zu. Aber das Mädchen war weg. Kati Soisalo erschrak und sah sich rasch um – Vilmas gelb-schwarzer Buggy und ihre Puppe Saara, die japanischen Touristen, ein lautstarker Trupp junger Briten, ein Kroate mit Baskenmütze, der sein Fahrrad schob, eine Bierdose, die übers Pflaster rollte … Vilma war zwar ein lebhaftes Kind, aber auch folgsam und sogar ein wenigschüchtern, sie entfernte sich im Gedränge nie weiter als ein paar Meter von ihrer Mutter.
»Mutti, schau mal. So ein süßes Baby!« Vilma tauchte plötzlich im Rücken ihrer Mutter auf und zeigte fröhlich auf ein Kleines mit Mütze, das in einem Kindertragerucksack hin und her schaukelte.
Kati Soisalo beugte sich vor und legte ihrer Tochter die Hände auf die Schultern. »Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass du in meiner Nähe bleiben sollst. Weißt du, wie sehr Mutti erschrocken ist?«
Das Weinen begann lautlos, dann verzog sich Vilmas Gesicht, und Tränen rollten über ihre Wangen. Die Mutter hob das Mädchen hoch, umarmte es und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Entschuldige, Vilma, Mutti hat Angst um dich gehabt. Hier sind so unheimlich viele Leute, Mutti hat dich in diesem Gedränge nicht mehr gesehen. Komm, wir gehen woandershin, wir könnten uns ein Eis kaufen.«
Kati Soisalo trug ihre Tochter auf dem Arm, schob mit der anderen Hand den leichten Buggy und ging zum Platz am Pile-Tor. Obwohl sie nur ein helles, hauchdünnes Sommerkleid trug, war sie schweißgebadet. Wie üblich suchte Vilma ihr Eis nach der Farbe der Verpackung aus; diesmal hatte sie Glück, in der Kühlbox fand sich eine violette Eistüte. Sie setzten sich auf die Stufen des Großen Onofrio-Brunnens, und Kati Soisalo schaute Vilma an wie Kommissar Hunter aus Entenhausen, das war ein todsicheres Mittel, ihre Tochter zum Lachen zu bringen. Alle Anspannung wich, als sie an die Standardfiguren ihrer gemeinsamen Spiele dachte: die Mäuse Limppu und Lamppu, die am liebsten Käse stibitzten, das unsichtbare Mädchen Ninni aus dem Muminland, das am Frühstückstisch saß, den Hund Roffe, ein Wipptier vom Spielplatz im Park …
Vilmas Mundwinkel waren vom Schokoladeneis ganz braun, sie kicherte und legte Saara auf die Stufen, um die Verpackungweiter aufzureißen. Der Haarschopf der kleinen Puppe roch nach etwas Süßem, vermutlich Vanille. Wenn sich das Mädchen um Saara kümmerte, die sie nie länger als für einen Augenblick allein ließ, nannte sie sich selbst Mutti
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