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Weiss

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Titel: Weiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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einen Fausthieb. Da packte sie jemand an der Schulter.
    Sie drehte sich um und sah einen Mann mit spitzer Nase,seine Augen funkelten vor Zorn, das ließ sie noch mehr verzweifeln.
    »Beruhigen Sie sich. Erzählen Sie, was passiert ist. Mein Name ist Branko Mikulić, ich möchte Ihnen helfen«, erklärte der Polizist ganz ruhig in ausgezeichnetem Englisch.
    Dabei hielt er sie allerdings immer noch mit einem schmerzhaften Griff an der Schulter fest. Bildete der sich etwa ein, dass sie fliehen wollte, fragte sich Kati Soisalo verwundert. Der wütende Blick des Mannes sagte etwas ganz anderes als seine freundlichen Worte.
    »Als Erstes wollen wir uns mal Ihren Pass anschauen«, fuhr Mikulić fort und streckte seine Hand aus.
    Kati Soisalo wusste nicht, was ihr einen größeren Schreck einjagte: dass sie ihren Rucksack mit Pass und Portemonnaie im Park liegengelassen hatte oder dass der kroatische Polizist sie an Jukka Ukkola erinnerte. Der Mann starrte sie an wie eine Patientin aus der Psychiatrie. Hasste auch er die Frauen oder nur Touristinnen, die herumbrüllten und nicht Kroatisch konnten? Dieser Mensch sollte die Suche nach Vilma einleiten?
    Mikulić beugte sich vor und näherte sich ihrem Gesicht. »Haben Sie viel Alkohol getrunken?«
    Kati Soisalo kam es so vor, als würde sie im Meer an der Wasseroberfläche auftauchen und eine riesige Sturzwelle erblicken, die auf sie zu rollte. Im Polizeipräsidium von Dubrovnik in der
Ulica Dr. Ante Starčevića 13
brach sie in dem Augenblick zusammen, als ihr klar wurde, dass sie ihre Tochter verloren hatte.

ERSTER TEIL
Der neue Alptraum
    9. August – 12. August, Gegenwart

1
    Montag, 9. August
    Die Geschichte des Stadtteils Skadarlija, wie man sie kennt, beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich Zigeuner in den einst zum Schutz der alten Stadtmauer ausgehobenen Wallgräben ansiedelten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten dann Künstler diese Gegend für sich. Und heutzutage war Skadarlija die vielleicht schönste Touristenattraktion in der Belgrader Altstadt, ein Ort, zu dem Tag für Tag Tausende und Abertausende bunt gekleidete Reisende zogen wie Ameisen zu ihrem Bau.
    Auf der Terrasse des Restaurants »Tri Šešira« bot ein großer, dichtbelaubter Ahorn Schatten. Die Mittagshitze in Belgrad war drückend und der Blumenduft berauschend. Neben Gaststätten, Kunsthandlungen und uraltem Pflaster gab es in der Skadarska-Straße auch Dutzende kleine Blumenläden und -stände.
    »›
Mein Name ist Skadarlija … oder Skadarska-Straße, ganz wie ihr wollt. Ich bin kein Boulevard … keine Allee … und auch keine Hauptverkehrsstraße. Nein, ich bin eine ganz gewöhnliche, kurvenreiche Gasse im Zentrum von Belgrad. Und mehr brauchte man über mich auch nicht zu berichten, wären da nicht meine Boheme-Vergangenheit, zerfallende Dächer, schwankende Treppen

‹ Das hat ein Schreiberling namens Zuko Džumhur über diesen Ort verfasst«, sagte Tuula Numminen zu ihrem Mann und prüfte nebenbei, ob etwa ihre mit viel Mühe hergerichtete luftig-lockere Frisur durch die Hitze in sich zusammengefallen war.
    Eino Numminen, der im Versandhandel gekaufte Sandalen der Größe 47 trug, legte den rechten Fuß auf seinen behaarten Oberschenkel, ein paar Zentimeter über jenem Knie, in das an einemHerbstmorgen vor sechs Jahren die Kette seiner Stihl-Motorsäge eingedrungen war und ihn mit achtundvierzig Jahren nicht nur dazu verdammt hatte, als Invalidenrentner zu leben, sondern auch mit seiner Frau ohne Ende Urlaub zu machen. Tuula hingegen hatte es nie gereizt, arbeiten zu gehen.
    Er sah, wie Musikanten von Tisch zu Tisch zogen, faltete die Hände und hoffte inständig, dass sie nicht bei ihnen stehen blieben. Seine Frau würde ihn garantiert auffordern, das Portemonnaie herauszuholen. Ihm war immer noch nicht klar, warum sie mit ihrem Wohnmobil einen Abstecher ins Binnenland machen mussten, wo doch die Küstenstraßen an der Adria so eine strahlend schöne Aussicht boten. Seine Frau hatte ihm zwar erklärt, dass man die Hauptstädte gesehen haben musste, aber trotzdem. Auch Rentner hatten nicht endlos viel Zeit, im Oktober würde es schon kälter werden. Er wollte die Sonne am Meeresstrand genießen und nicht im brütend heißen Asphaltdschungel umherziehen. Den nächsten Winter würden sie auf jeden Fall nicht mehr auf dem Lande, sondern in der Stadt verbringen, da seine Frau im letzten Frühjahr auf Biegen und Brechen unbedingt in ein Mehrfamilienhaus ziehen

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