Weiss
stehen, es war niemand zu sehen und nichts zu hören. Allmählich machte sie sich Sorgen, sie schaute in alle Richtungen, verließ den Weg und lief zwischen den Kiefern hinauf zum Gipfel der Anhöhe, obwohl sie nicht glaubte, ihre Tochter dort zu finden. Es war nicht Vilmas Art, sich herumzutreiben … Auf einmal wurde Kati Soisalo alles klar – der Teich mit den Fischen!
Sie rannte zu dem Teich, schüttelte die Pumps von den Füßen und watete durch das Wasser, bis sie jeden Quadratzentimeter abgelaufen war. Nichts. Doch die Erleichterung währte nur kurz, und an ihre Stelle trat Angst, noch mehr als zuvor. Die Beine waren schwer wie Blei und die Kehle ausgetrocknet, ihr war übel.Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als die ganze nähere Umgebung zu durchforsten. Das blanke Entsetzen überkam sie, aber sie zwang sich, zu überlegen, was jetzt getan werden musste.
Als sie alle denkbaren Verstecke durchsucht hatte, kehrte sie atemlos zum Fischteich zurück und geriet nun noch mehr in Panik. Es gab in dem Park keinen einzigen steilen Hang, den Vilma womöglich hinabgestürzt wäre, sie konnte nicht verstehen, wohin das Mädchen verschwunden war. Plötzlich bemerkte sie ein paar Meter entfernt hinter der Wegeinfassung etwas Buntes, ein Stück Stoff. Sie trat näher heran und erblickte die Puppe Saara. Vilma hätte ihre Puppe niemals ins Gebüsch geworfen.
Kati Soisalo klappte nach vorn und erbrach alles, was sie im Magen hatte, mit solcher Wucht, dass sie das Gefühl hatte, die Speiseröhre platzte. Nun gab es kein Halten mehr, sie stürzte Hals über Kopf los und rannte mit langen Schritten durch den Park und rief in ihrer Not Vilmas Namen. Niemand antwortete. Sie biss sich so heftig auf die Zähne, dass an einem Schneidezahn ein Stück abbrach, die Splitter spuckte sie aus. War doch etwas Gelbes zwischen den Bäumen zu sehen gewesen, als sie beim Picknick saßen? Auf alle Fälle hatte sie gehört, wie ein Ast brach. Der Mann am Onofrio-Brunnen mit der Kamera und der gelben Jacke, hatte er sie und Vilma beobachtet?
Unfähig, klar zu denken raste sie die Treppe hinunter, die Angst hatte ganz von ihr Besitz ergriffen. Sie verspürte den unwiderstehlichen Wunsch, aus diesem Alptraum zu erwachen, die ganze Weltordnung zu negieren und das Geschehene rückgängig zu machen.
Sie brauchte unbedingt Hilfe. Je eher die Polizei mit der Suche beginnen konnte, umso größer waren ihre Chancen, Vilma zu finden. Bis zur Polizeiwache war es ein reichlicher Kilometer, sie befand sich in derselben Straße wie die zentrale Touristeninformation von Dubrovnik, in der sie vom Gradac-Park gehört hatte. Ihren Entschluss, den Park zu besuchen, bereute sie nun mehrals alles andere auf der Welt. Wie hieß doch gleich diese Straße, Doktor …
Dr. Ante Starčević
. Kati Soisalo las den Namen auf dem Schild an der Kreuzung und bog in die Straße ein. Sie rannte schneller, als sie es sich zugetraut hätte, ruderte dabei mit den Händen und zwang ihre Beine, sich zu bewegen, ohne Rücksicht darauf, dass ihr fast die Lunge platzte und die Oberschenkel schmerzten. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Nägel drangen tief ins Fleisch, und sie biss sich so heftig auf die Lippen, dass sie das Blut schmeckte. Doch sie wollte den Schmerz spüren, er lenkte von der unausweichlichen Tatsache ab, die sie nie und nimmer akzeptieren würde, und er verdrängte die Gedanken an all das, was ihrer Tochter zugestoßen sein könnte.
Endlich erblickte sie das vierstöckige sandbraune Polizeigebäude und das Schild
Policija
. Kati Soisalo riss die Tür auf, stürzte keuchend zum nächstgelegenen Schalter und schlug so heftig gegen das Plexiglas, dass der junge Polizist dahinter erschrocken aufsprang.
»Helfen Sie mir! Meine Tochter ist verschwunden. Sie wurde im Gradac-Park entführt. Vor ein paar Minuten, vor fünf Minuten …!«, brüllte sie auf Englisch, und jeder in dem Raum schaute zu ihr hin. Sie schnappte nach Luft, Speichel rann ihr aus dem Mundwinkel.
Der Polizist mit einem Namensschild am Revers, auf dem »Darinko Kozlevac« zu lesen war, breitete ratlos die Arme aus und sagte etwas auf Kroatisch, einer Sprache, die anscheinend vor allem aus rasselnden Kehllauten und Zungenspitzen-R bestand.
»Meine Tochter! Verschwunden!«, rief Kati Soisalo in ihrem dürftigen Deutsch, doch der Polizist schüttelte nur den Kopf.
»Verdammt noch mal, tun Sie etwas!« Kati Soisalo verlor die Selbstbeherrschung und verpasste dem Plexiglas mit aller Kraft
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