Weiss
Kanzlei marschiert, um mir zu drohen. Er hat behauptet, er würde sich nun für unseren Kunstgriff vom letzten Jahr rächen, als wir ihn mit den Fotos erpresst haben. Schon bei dem Gedanken, was dieser Verrückte nun wieder vorhaben könnte, wird mir angst und bange.«
Eine unangenehme Stille senkte sich über den Raum und endete erst, als das Telefon auf dem Nachttisch schrillte.
Kati Soisalo streckte den Arm aus, griff nach ihrem Handy und zog aus irgendeinem Grund die Tagesdecke bis unters Kinn, als sie sah, dass Leo Kara der Anrufer war. Letztes Jahr hatte sie dem Mitarbeiter des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung bei Ermittlungen zu illegalen Waffengeschäften finnischer Großunternehmen geholfen.
»Guten Morgen«, sagte Kara, obwohl es in Helsinki schon nach 15 Uhr war. »Nett, dass du anrufst. Bist du in Wien? Was gibt’s Neues?«
»Nichts Umwerfendes. Im Dienst ist nach unseren Ermittlungen vom letzten Jahr alles ziemlich ruhig verlaufen. Birou, mein Chef, hat dafür gesorgt, dass ich aus seiner Sicht möglichst weit weg bin. Ich war lange in Afghanistan und bin letzte Woche von einer Reise nach Myanmar zurückgekommen.«
»Urlaubsparadiese sind das nicht gerade. Das hört sich so an, als wollte Gilbert Birou dich ernsthaft loswerden«, erwiderte Kati Soisalo lachend. »Schönen Gruß übrigens von Paranoid, er sitzt hier neben mir. Unser Cracker.«
Kara kam zur Sache. »Nachdem sich unsere Wege im letzten Jahr getrennt hatten, habe ich in Wien wie versprochen mit dem Chef unserer Abteilung zur Bekämpfung des Menschenhandels über den Fall deiner Tochter gesprochen. Ich hatte die ganze Angelegenheit schon vergessen, doch gerade eben hat er angerufen.«
Die Tagesdecke rutschte auf den Fußboden, als Kati Soisalo aufsprang.
»Ich sage aber gleich im Voraus, dass nicht unbedingt irgendeinZusammenhang mit deiner Tochter bestehen muss«, erklärte Kara, um ihre Aufregung zu dämpfen. »Jedenfalls hat ein finnisches Ehepaar heute in einem Belgrader Restaurant ein Mädchen ungefähr in Vilmas Alter beobachtet, das angeblich nordisch aussah und vermutlich Finnisch verstand. Nach Aussage der finnischen Touristen hat ein serbischer Mann dann die Gaststätte verlassen und das Mädchen, das sich gesträubt hat, mitgeschleppt. Sie haben den Vorfall bei der finnischen Botschaft in Belgrad gemeldet und …«
Kati Soisalo öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Karas Stimme war nur noch ein fernes Rauschen, das Blut stieg ihr in den Kopf, sie musste sich hinsetzen. Die schmerzlichsten Erinnerungen ihres Lebens kamen hoch: Vilma beim Erdbeerenessen in Dubrovnik am Wegesrand im Gradac-Park. Die vollkommene Stille und die grenzenlose Angst nach ihrem Verschwinden. Die Puppe Saara im Gebüsch und der Polizist Branko Mikulić, dessen Zögern und Misstrauen den Entführern Vilmas über eine Stunde Zeit für die Flucht aus Dubrovnik verschafft hatte, bevor die Ermittlungen und die Suche nach dem Mädchen richtig eingeleitet wurden.
»Ist es möglich, dass dieses Mädchen Vilma war?«, fragte Kati Soisalo leise.
»Möglich ist das schon. Serbien liegt an der Balkan-Route, über die liefern kriminelle Organisationen Drogen, Waffen und Menschen nach Westeuropa …«
»Danke, Leo, du ahnst gar nicht, wie viel mir das bedeutet.«
»Das ist doch nur ein kleiner Gefallen, schließlich hast du mir voriges Jahr in der Papierfabrik das Leben gerettet.«
»Ich … halte dich auf dem Laufenden«, stammelte Kati Soisalo, brach das Gespräch ab und zog sich hastig an.
Verdutzt wartete Jonny auf eine Erklärung. »Hast du irgendetwas Neues über Vilma erfahren? Erzähl.«
Kati Soisalo rannte in den Flur und fuhr in ihre Schuhe. Sie öffnetedie Wohnungstür, murmelte, sie werde abends anrufen, und stürzte ins Treppenhaus. Endlich war es passiert! Jetzt, drei Jahre nach Vilmas Verschwinden, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Erstaunt stellte sie fest, dass sie keine Spur von Freude oder Erleichterung empfand, sondern nur Angst. Die Angst davor, dass sie Vilma doch nicht wiederbekam.
Ihre Kanzlei lag in Hietalahti, nur ein paar Häuserblocks von Jonny Karlssons Wohnung in der Punavuorenkatu entfernt. Kati Soisalo rannte den ganzen Weg. Sie wusste sehr genau, was sie nun tun würde, diese Situation hatte sie im Kopf unzählige Male durchgespielt. Die Haustür in der Tehtaankatu flog auf, sie hastete die Treppen hinauf und stürmte in ihre Kanzlei. Aus einem Schubfach des feuersicheren
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