Weiße Nächte, weites Land
Wenn ich sie nicht gelesen hätte, hättest du mir dann nie erzählt, dass mich eine Lehrerin der Akademie gerne kennenlernen will?« Beim letzten Satz begannen Sophias Augen wieder zu funkeln, und ihr schlechtes Gewissen schwand.
»Doch, natürlich, Püppchen, irgendwann …«
Sophia sog scharf die Luft ein. »Nenn mich nicht so!«
»Verzeih, Sophia, es fällt mir schwer, dich nicht mehr als mein kleines Mädchen zu sehen …« Eleonora kämpfte mit den Tränen.
Sophia sprang auf und war sofort an ihrer Seite, kniete sich vor sie, nahm ihre Hände und küsste sie. »Verzeih mir, Mutter! Ich wollte nicht grob sein. Ich liebe dich so sehr …« Nun flossen auch ihr die Tränen über die Wangen.
Eleonora drückte sie an sich. »Und ich dich erst, Sophia. Ich liebe dich mehr als mein Leben. Deshalb … deshalb wollte ich noch ein wenig warten, bis ich dir von Maschas Einladung erzähle. Ich denke, es ist noch zu früh für dich, weißt du. Du bist doch erst siebzehn.«
»An der Akademie werden Sechsjährige aufgenommen, wenn sie nur begabt genug sind«, meldete sich nun Matthias zu Wort. Auf seinem Gesicht lag ein wohlwollendes Lächeln.
»Wenn deine Freundin angeboten hat, sie unter ihre Fittiche zu nehmen … Etwas Besseres kann einer Künstlerin wie Sophia doch gar nicht passieren.« Daniel faltete die Serviette zusammen und zwinkerte Sophia zu. Das Strahlen des jungen Mädchens funkelte mit den Lichtern in den Kerzenhaltern und dem Kronleuchter um die Wette. Hatte sie es nicht gewusst, dass sie meinungsstarke Befürworter haben würde? Ihr Lächeln verflog für einen Moment, als sie zu Alexandra blickte, die stoisch weiteraß, ohne eine Miene zu verziehen. Was mochte hinter ihrer Stirn vor sich gehen? Würde sie genau wie Sophia die Flucht nach vorn antreten und gestehen, dass sie die Briefe ihrer Mutter gelesen hatte?
Eleonora strich ihrer Tochter über die Haare. Die Tränen rollten unablässig über ihre Wangen. »Wie soll ich dich denn bloß ziehen lassen«, flüsterte sie, und Sophia spürte, wie schwer es ihr ums Herz war. Auch ihr selbst würde der Abschied von der Mutter, der Familie, von ihrer Kindheit und Jugend schwerfallen. Aber das Kitzeln auf der Haut, das freudige Pochen ihres Herzens, die Neugier auf die sagenumwobene Stadt würden sie den Schmerz vergessen lassen.
»Lass uns noch eine Weile darüber nachdenken«, fuhr Eleonora fort. »Es hat doch noch Zeit …«
Daniel fiel ihr im Plauderton ins Wort. »Ich werde übrigens in drei Wochen nach Petersburg reisen, wie wir es besprochen haben, Eleonora.« Er blickte sie unter der gesenkten Stirn an. »Es wäre mir eine Ehre, wenn mich Sophia begleiten würde.«
»Oh, Herr im Himmel«, stöhnte Eleonora auf.
Sophia brach in Jubel aus, sprang auf und umarmte erst ihren Onkel Daniel, dann Matthias. »Du wirst einmal sehr stolz auf mich sein«, flüsterte sie ihm dabei ins Ohr. »Ich werde zeigen, was ich von dir gelernt habe.«
Matthias drückte ihren Arm. »Ich könnte jetzt schon nicht stolzer auf dich sein, Sophia«, flüsterte er zurück.
Eleonora rieb sich die Stirn und schüttelte den Kopf. Aber Sophia wusste, dass der Kampf gewonnen war. Ihre Mutter würde sie ziehen lassen.
Alle redeten nun durcheinander, sprachen auf Eleonora ein, aber das Strahlen schwand nicht mehr aus Sophias Gesicht. Es ging nun nur noch darum, ob Eleonora es schaffen würde, Mascha vorab in Kenntnis zu setzen über Sophias Besuch, und wie sie denn zu reisen gedachten und wo sie wohnen sollte. Sophia hielt es vor Aufregung kaum noch auf ihrem Stuhl.
»Wenn wir rechtzeitig aufbrechen, werden wir die Weißen Nächte in Petersburg miterleben«, sinnierte Daniel. »Es heißt, in diesen zauberhaften Nächten, wenn die Sonne nicht untergeht, gehen alle Wünsche in Erfüllung. Also – überleg dir gut, was du dir wünschst, Sophia!«
Sophia stützte das Kinn in die Hände und träumte mit offenen Augen. »Ich kann es kaum erwarten«, murmelte sie, bevor sie ihrer Mutter wieder in den Armen lag und ihre heiße Wange an ihre drückte. »Ich schreibe dir jeden Tag, ich schwöre es!«
Das allgemeine Geplauder verstummte, als sich plötzlich Alexandra erhob. Ihr Gesicht war immer noch blass. Um ihre Mundwinkel zuckte es, bevor sie mit erhobener Stimme zu sprechen begann: »Wenn Onkel Daniel und Sophia in drei Wochen nach Petersburg fahren, werde ich mich ihnen anschließen. Ich habe meine Mutter seit acht Jahren nicht gesehen. Kein Brief von ihr hat mich je
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