Weiße Nächte, weites Land
nahm sie, auf dem Teppich sitzend, heraus und blätterte sie durch. Viele waren noch nach der Kolonie Waidbach gegangen, die meisten aber nach Saratow. Ein Teil der Nachrichten stammte von Tante Christina, wie Sophia erkannte. Aus Sankt Petersburg. Sophias Herzschlag beschleunigte sich. Ein anderer Teil stammte von einer Maria Petrowna, ebenfalls aus Sankt Petersburg, unterschrieben mit »Mascha«. Und manche der Seiten trugen als Briefkopf – Sophia schnappte nach Luft – die Adresse der Akademie der Künste in Sankt Petersburg.
Himmel, ihre Mutter hielt Kontakte zu dieser Universität und hatte ihr nie davon erzählt? Seit Jahren träumte sie davon, Künstlerin zu werden. Wo auf der Welt konnte man das besser als an der Petersburger Akademie?
Sophia vergaß alle Skrupel und öffnete den ersten Brief dieser Mascha mit bebenden Fingern. Das Deutsch der Russin klang an manchen Stellen holperig, aber Sophia bereitete es keine Schwierigkeiten, herauszulesen, dass die Absenderin an der Kunstakademie als Lehrerin unterrichtete und diese Arbeit sie beglückend ausfüllte. In den weiteren Briefen erzählte sie lustige Anekdoten von ihren Schülern, zum Teil Kinder von Leibeigenen, deren besondere Begabung an der Universität mit Stipendien gefördert wurde. Mit Leidenschaft berichtete sie von den Ausstellungen, die alljährlich in der Akademie stattfanden, und sie lud Eleonora in jedem zweiten Brief ein, sie doch endlich einmal zu besuchen und dieses besondere kulturelle Ereignis mitzuerleben. Und da … in einem der Briefe las Sophia ihren Namen. Sie hielt die Seite dichter unter die Nase, um die Zeilen zu entziffern. Offenbar hatte ihre Mutter von dem Interesse der Tochter an der Malerei berichtet, und Mascha antwortete tatsächlich, dass sie sich darauf freue, sie, Sophia, bald kennenzulernen.
Und das hatte ihr die Mutter verschwiegen?
Sophia liebte ihre Mutter mit der ganzen Kraft ihres Herzens, aber nun stieg Enttäuschung in ihr auf. Die Mutter wusste doch, dass sie von einem Kunststudium träumte! Hielt sie es noch für zu früh, um mit ihr über diese Chance zu sprechen, in Sankt Petersburg zu studieren?
Sophia schloss die Augen und fühlte sich, als überrollte sie eine Lawine von Ideen und Bildern. Tief sog sie die Luft ein, während sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten.
»Das wird deiner Mutter nicht gefallen, dass du in ihrer Abwesenheit hier stöberst wie eine gemeine Diebin.«
Sophia zuckte zusammen, die Briefstöße glitten knisternd von ihrem Schoß, als sie sich zur Tür wandte und Alexandra entdeckte. Die rötlich blonden Haare hatte sie wie stets zu einem Kranz geflochten, durch den die Kopfhaut rosa schien. Sophia wusste, dass sie unter dem spärlichen Haupthaar litt und ihr die schwarze Mähne neidete. Vor einigen Jahren hatte Alexandra ihr in der Nacht die Haare mit einem Brenneisen versengt. Sophia hatte immer noch den Brandgeruch in der Nase und fühlte noch den Schmerz, als sie in den Spiegel geblickt und erkannte hatte, dass sie gut die Hälfte der Strähnen abschneiden musste. Zum Glück waren sie in wenigen Monaten wieder zu voller Pracht nachgewachsen, und seitdem war Sophia noch mehr auf der Hut vor Alexandra.
Sophia warf die Haare in den Nacken und setzte eine hochmütige Miene auf. »Ich stöbere nicht wie eine Diebin. Ich habe Mutter um Erlaubnis gebeten«, behauptete sie.
»So?« Alexandra kam im wiegenden Gang näher. Obwohl kein Fest anstand, trug sie ein grünseidenes, mit Pailletten besetztes Kleid, das tief dekolletiert war und dessen Ärmel in gebauschten Spitzen endeten. Alexandra legte mit ihren knapp vierzehn Jahren allergrößten Wert auf ein modisches Erscheinungsbild und spottete über Sophia, wenn die sich im taubengrauen Hauskleid an den Zeichentisch setzte oder zum Essen erschien.
Mit einer blitzschnellen Bewegung ging sie nun in die Hocke und griff nach einem der Briefpacken.
»He!« Sophia wollte ihr die Papiere wieder entreißen, aber Alexandra war schneller. Mit dem Stapel in den Händen ließ sie sich auf die Chaiselongue plumpsen, schlug die Beine übereinander und begann, die Briefe durchzublättern.
»Sieh mal einer an!«, murmelte sie. »Meine verehrte Frau Mutter ist ja eine richtige Schriftstellerin. Wie fleißig sie Bericht erstattet.« Sie zog den ersten Bogen aus dem Umschlag, entfaltete ihn und legte beim Lesen einen Zeigefinger an die Wange, als überflöge sie eine Zeitung.
Sophia schob die Lippen vor und betrachtete
Weitere Kostenlose Bücher