Weiße Nächte, weites Land
zornbebend ihre Base, mit der sie aufgewachsen war, für die sie aber nicht den Hauch von schwesterlichen Gefühlen empfand. In den ersten Jahren hatte Sophia sich bemüht, Alexandras Vertrauen zu gewinnen und ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr aufzubauen. Aber ihr Wesen war von einer verstörenden Bösartigkeit geprägt, die Sophia manches Mal nach Atem ringen ließ. Das Erlebnis mit dem Brenneisen war nur eine von vielen Episoden, die Sophia gezeigt hatten, dass Alexandra kein Mädchen war, das Wert auf Freundschaften und Zuneigung legte. Worauf sie Wert legte, wusste Sophia allerdings auch nicht. Sie hatte aufgehört, den Charakter der Base zu ergründen, und ging ihr, wann immer es möglich war, aus dem Weg.
Sophia musterte die Papiere in ihrer Hand und erkannte, dass Alexandra offenbar nur die Briefe von Tante Christina erwischt hatte. Nun, sollte sie sie lesen. Was kratzte es sie. Wichtig waren ihr selbst nur die Nachrichten von Mascha. Ein Name, der ihr wie Honig auf der Zunge schmolz. Sie konnte es kaum erwarten, diese Frau kennenzulernen. Niemand würde sie davon abhalten!
Sie steckte die Schreiben wieder zu einem ordentlichen Stapel zusammen und deponierte diesen in der Schatulle. Dann wandte sie sich Alexandra zu, die ganz gegen ihre Gewohnheit in Schweigen verfallen war.
Als Sophia ihr Gesicht sah, erschrak sie bis ins Mark. Alexandra war weiß wie eine Leiche, ihre Augen schienen zu glühen. An ihrem Hals und ihrer Brust breiteten sich hellrote Flecken aus.
»Geht es dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?«, flüsterte Sophia.
Alexandra reagierte nicht, überflog nur die Zeilen und wechselte das Blatt. Das Lächeln in ihrem bleichen Gesicht schien von weit her zu kommen und verursachte Sophia eine Gänsehaut.
Sie erhob sich, trat einen Schritt auf die Base zu. »Komm, gib mir die Briefe! Ich lege sie wieder zurück. Besser fragst du Mutter, ob du sie lesen darfst.«
Als sie sich Alexandra einen weiteren Schritt näherte und den Arm ausstreckte, hob diese so schlagartig die Hand, dass Sophia taumelte. Alexandras Blick war stechend, als sie sie anschaute. »Komm mir nicht zu nahe, Sophia! Diese Briefe gehören mir, hörst du? Sie gehören mir, und niemand hat das Recht, sie mir vorzuenthalten!« Ihre Stimme war immer lauter geworden. Entsetzt wich Sophia zurück.
»Aber du darfst sie nicht behalten«, wagte sie einen letzten Einwand. »Sie sind an meine Mutter adressiert!«
Alexandra sprang auf und stopfte sich sämtliche Umschläge in den Ausschnitt, der ohnehin noch kaum von weiblichen Formen ausgefüllt war. »Das bestimmst du nicht, Sophia! Niemand bestimmt das. Von nun an …« Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Alexandras Miene aus. »Von nun an bestimme ich selbst über mich!« Damit rauschte sie in ihrer grünen Seidenwolke hinaus und ließ die fassungslose Sophia zurück.
»Warum hast du mir nie von Mascha erzählt?«
Das silberne Messer, mit dem Eleonora den krossen Lammbraten zerteilte, fiel scheppernd auf ihren Porzellanteller.
Sophia war den ganzen Nachmittag über viel zu sehr mit ihren eigenen Wünschen und Träumen beschäftigt gewesen, um über Alexandras absonderliches Verhalten zu grübeln. Hin und her hatte sie überlegt, wie sie das Gespräch auf die Kunstlehrerin bringen könnte. Am Ende hatte sie sich entschieden, während des Abendessens, nachdem die beiden jüngeren Brüder zu Bett waren, das Thema aufzugreifen, und zwar geradeheraus und ohne Umschweife. Dass es ihre Mutter aufregen würde, hatte sie bereits vermutet – und in Kauf genommen. Es ging um ihr weiteres Leben, da durfte es schon einen kleinen Aufruhr in der Familie geben, befand Sophia.
Dass Onkel Daniel mit am Tisch saß und sich nun die Serviette vor den Mund hielt, als wollte er ein Glucksen verbergen, war Sophia nur recht. Sie spürte, dass sie einen Mann wie ihn auf ihrer Seite hätte, wenn sie sich aus dem Gespinst der Familie befreien und sich wie ein Schmetterling in die Lüfte schwingen wollte. Genau dies beabsichtigte Sophia an diesem Abend einzuleiten.
»Woher weißt du von …« Eleonora rang sichtbar um Fassung, hüstelte. Sie hob das Kinn. »Hast du in meinen Sachen gestöbert?«
»Nicht absichtlich.« Diese Frage gehörte zweifellos zum unangenehmsten Teil der Unterhaltung. »Ich habe nach Zeichenpapier gesucht und bin dabei auf die Schatulle gestoßen. Ich hätte die Briefe nicht gelesen, wenn ich nicht den Briefkopf der Kunstakademie erkannt hätte.
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