Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
Northcutt oder einer ihrer Lakaien mich sieht, sind sie bestimmt der Meinung, dass ich als » Krankgeschriebener « hier nicht rumlaufen dürfte. Ich schaffe es, niemandem ins Gesicht zu sehen und keinen anzurempeln.
Die Lainhart-Bibliothek, das hässlichste Gebäude in Wallingford, wurde in den Achtzigerjahren mit Geld aus der Stiftung eines Musikers erbaut. Damals waren die Leute augenscheinlich der Meinung, ein rundes Gebäude mit einem sonderbaren Neigungswinkel wäre genau die richtige Frischzellenkur für die herrschaftlichen alten Backsteingemäuer rundum. Doch so misslungen es von außen wirkt, drinnen stehen Sofas und es ist richtig gemütlich. Von dem Raum in der Mitte gehen fächerförmig Bücherregale ab; es gibt viele Sitzmöglichkeiten und einen riesigen Globus, den die Oberstufenschüler jedes Jahr von neuem zu klauen versuchen (eine beliebte Wette).
Die Bibliothekarin sitzt an ihrem großen Schreibtisch aus Eichenholz und winkt mir zu. Sie ist gerade erst mit der Ausbildung fertig und trägt eine Brille aus Katzenaugen in allen Regenbogenfarben. Mehrere Loser wetteten darauf, sie abschleppen zu können. Als ich ihnen die Quote zuwies, die ich ausgerechnet hatte, taten sie mir fast leid.
» Schön, dass Sie wieder da sind, Cassel « , sagt sie.
» Ja, finde ich auch, Ms Fiske. « Nachdem sie mich nun mal gesehen hat, verhalte ich mich am besten möglichst unauffällig. Hoffentlich bin ich wirklich wieder zurück, ehe sie merkt, dass ich das gar nicht sein dürfte.
Mein Arbeitskapital – insgesamt dreitausend Dollar – steckt zwischen den Seiten eines großen Namensverzeichnisses mit Ledereinband. Ich bewahre es bereits seit zwei Jahren dort auf, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte. Außer mir nimmt niemand das Buch in die Hand. Ich habe nur Angst, dass es irgendwann aussortiert wird, weil kein Mensch ein Namensverzeichnis benutzt. Doch ich vertraue darauf, dass Wallingford es behält, weil es teuer und ehrwürdig genug aussieht, um Eltern bei einer Besichtigung glauben zu machen, dass ihre Kinder hier geniale Sachen lernen.
Ich schlage das Buch auf und entnehme sechshundert Dollar. Dann mache ich mich noch ein paar Minuten am Regal zu schaffen, als würde ich Renaissance-Gedichte lesen wollen, ehe ich in unseren Schlaftrakt schleiche, wo Sam auf mich warten soll. Als ich von der Treppe in den Flur einbiege, kommt Valerio aus seinem Zimmer. Ich weiche auf die Toilette aus und schließe mich in einer Kabine ein. Während ich an der Wand lehne und darauf warte, dass mein Herz wieder normal schlägt, versuche ich mir einzureden, dass es keinen Grund gibt, sich zu schämen, ehe man bei etwas Peinlichem erwischt wird. Valerio kommt nicht hinterher. Ich schicke Sam eine SMS .
Kurz darauf kommt er lachend auf die Toilette. » Perfekt für einen geheimen Treffpunkt! «
Ich drücke die Kabinentür auf. » Lach dich weg. « Doch in meiner Stimme liegt kein Ärger, nur Erleichterung.
» Die Luft ist rein « , sagt er. » Der Vogel ist ausgeflogen. Die Kuh ist vom Eis. «
Ich kann einfach nicht anders, ich muss lächeln, als ich das Geld aus der Tasche pule. » Du bist ein Meister der Täuschung. «
» Hey « , sagt er, » kannst du mir beibringen, wie man Quoten berechnet? Für den Fall, dass ich Wetten für irgendwas entgegennehme? Und wie geht das mit dem Point-Spread bei bestimmten Spielen? Wie berechnest du das? Jedenfalls nicht so, wie es im Internet steht. «
» Das ist kompliziert. « Ich schinde Zeit. Was ich eigentlich sagen will: Das Ganze ist manipuliert.
Er lehnt sich ans Waschbecken. » Wir Asiaten sind alle Mathegenies. «
» Okay, du Genie, ein andermal, ja? «
» Okay « , sagt er, und ich frage mich, ob er bereits darüber nachdenkt, mich aus meinem eigenen Geschäft zu verdrängen. Ich kann ihm bestimmt irgendwie eins reinwürgen, wenn er das macht, aber allein die Vorstellung, noch einen Plan zu schmieden, erschöpft mich.
Sam zählt das Geld sorgfältig. Ich beobachte ihn im Spiegel. » Weißt du, was ich mir wünsche? « , fragt er, als er fertig ist.
» Was? «
» Dass jemand mein Bett in einen Roboter verwandelt, der mit anderen Bettrobotern auf Leben und Tod für mich kämpft. «
Das entlockt mir ein Lachen. » Das wär ganz schön irre. «
Ein scheues Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. » Dann könnten wir Wetten darauf annehmen. Und schweinereich werden. «
Ich lehne meinen Kopf an die Klotür, betrachte die geflieste Wand und das Muster der vergilbten
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