Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
dir vorbeibringe, und so tun, als würdest du in einem Schlafzentrum an der Rezeption arbeiten. Ich schreibe dir genau auf, was du sagen musst. «
» Lass mich raten. Ich soll sagen, dass du in die Schule zurückkehren kannst. «
» Gar nicht. Du musst nur bestätigen, dass die Praxis einen Brief geschickt hat und dass der Arzt bei einem Patienten ist, aber später zurückrufen wird. Dann ruf bitte mich an und ich regele den Rest. Eigentlich glaube ich nicht mal, dass es so weit kommt. Sie werden sich vergewissern wollen, dass der Brief wirklich aus der Praxis stammt, aber damit hat’s sich wahrscheinlich. «
» Bist du nicht noch ein bisschen zu jung für eine Verbrecherkarriere? «
Ich muss lächeln. » Heißt das, du machst mit? «
» Natürlich. Bring mir das Handy. Philip kommt frühestens in einer Stunde wieder. Ich nehme an, dass er nicht unbedingt etwas davon erfahren soll. «
Jetzt grinse ich, weil sie sich so normal anhört. Es fällt mir schwer, sie mit der Maura mit den Augenringen in Einklang zu bringen, die auf dem Treppenabsatz von Engeln gefaselt hat.
» Maura, du bist göttlich. Ich werde dein Antlitz in Kartoffelbrei gravieren, damit alle dich so bewundern können wie ich. Wenn du Philip verlässt, heiratest du mich dann? «
Sie lacht. » Lass das Philip lieber nicht hören. «
» Jep « , sage ich. » Hast du das immer noch vor? Ich meine, weiß er Bescheid? «
» Worüber? «
» Oh « , sage ich betreten. » Neulich Abend hast du gesagt, du wolltest ihn verlassen– aber hey, es hat sich offenbar alles wieder eingerenkt. Super. «
» So was habe ich nie gesagt « , erwidert Maura tonlos. » Warum sollte ich so was sagen, wenn Philip und ich so glücklich miteinander sind? «
» Keine Ahnung, wahrscheinlich hab ich da was falsch verstanden. Ich muss los. Ich komme gleich mit dem Handy. « Ich lege auf, meine Hände sind schweißnass. Ich habe keinen Schimmer, was gerade passiert ist. Vielleicht will sie am Telefon nicht darüber sprechen, für den Fall, dass uns jemand belauscht. Oder es ist jemand da, vor dem sie nicht reden will.
Da fällt mir ein, dass Großvater meinte, Philip würde sie bearbeiten. Oder habe ich das falsch verstanden? Vielleicht weiß sie wirklich nicht mehr, was sie gesagt hat, weil er jemanden beauftragt hat, diese Erinnerungen zu löschen. Möglich, dass sie sich an so einiges nicht erinnert.
Als ich läute, öffnet Maura die Tür, aber sie macht sie nur halb auf und bittet mich nicht herein. Mir wird mulmig.
Ich sehe ihr in die Augen und versuche, darin zu lesen, aber ihr Blick ist leer und erschöpft. » Vielen Dank noch mal. « Ich halte ihr das Handy hin, das ich in einen Zettel mit den Anweisungen gewickelt habe.
» Kein Thema. « Sie streift meinen Handschuh mit ihrem Lederhandschuh, als sie das Handy entgegennimmt. Als ich kapiere, dass sie im Begriff ist, die Tür zu schließen, stelle ich rasch einen Fuß dazwischen.
» Moment « , sage ich. » Warte mal. «
Sie zieht die Stirn kraus.
» Kannst du dich an die Musik erinnern? « , frage ich.
Jetzt lässt sie die Tür los und starrt mich aus großen Augen an. » Hörst du sie auch? Es hat heute Morgen angefangen und es ist einfach zu schön. Magst du die Musik auch so gern? «
» Ja, sie ist unglaublich schön « , sage ich behutsam. Sie kann sich wirklich nicht erinnern. Mir fällt nur ein Mensch ein, der etwas davon hätte, wenn sie vergisst, dass sie ihren Mann verlassen will.
Ich krame das Gedächtnisamulett aus der Jackentasche. Zur Erinnerung. Es sieht aus wie ein Erbstück, das man seiner Lieblingsschwiegertochter schenken würde, um sie in der Familie willkommen zu heißen. » Meine Mutter wollte dir das hier geben « , lüge ich.
Sie schreckt zurück. Nicht jeder mag meine Mutter. » Philip möchte nicht, dass ich Amulette trage « , erklärt sie. » Er sagt, die Frau eines Fluchwerkers darf keine Angst zeigen. «
» Du könntest es verstecken « , sage ich rasch, aber sie schließt schon die Tür.
» Pass auf dich auf « , sagt Maura durch den Türspalt. » AufWiedersehen, Cassel. «
Einen Augenblick lang verharre ich mit dem Amulett in der Hand auf der Schwelle, um nachzudenken– der Erinnerung auf der Spur.
Auf das Gedächtnis kann man sich nicht verlassen. Es beugt sich unserer Weltsicht und passt sich unseren Vorurteilen an. Zeugen erinnern sich nur selten an dieselben Dinge. Sie identifizieren die falschen Menschen. Sie beschreiben im Detail Dinge, die nie passiert sind.
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