Weißer Fluch: Band 1 (German Edition)
hat’s versucht. Wer weiß, was er sich dabei gedacht hat, wahrscheinlich, dass er den Rückstoß schon aushalten würde. Er ließ sich von einem Haufen Leute anfassen, schön einzeln, bis sie alle im siebten Himmel waren. Als wäre er eine Droge. «
» Der Rückstoß müsste ihn dann doch auch euphorisch gemacht haben, oder? Wo war das Problem? «
Die weiße Katze springt neben mich aufs Sofa und wetzt ihre Krallen an den Kissen.
» Genau das ist das Problem bei euch jungen Leuten– so denkt ihr alle. Als wärt ihr unsterblich. Als hätte sich vor euch noch niemand genau diesen Blödsinn ausgedacht. Er ist verrückt geworden. Okay, sabbernd, grinsend, glücklich verrückt, aber ohne Verstand. Der Junge ist der Sohn von einem großen Tier in der Brennan-Familie; immerhin können sie sich die Behandlung leisten. «
Großvater wettert weiter gegen die Dummheit der Jugendlichen im Allgemeinen und der Werkerkinder im Besonderen. Ich rutsche nach links und streichele die Katze, die unter meiner Hand ganz ruhig wird. Sie schnurrt nicht, sie ist still wie ein Stein.
Ehe ich an diesem Abend ins Bett gehe, krame ich im Apothekenschrank herum. Ich nehme zwei Schlaftabletten und schlafe mit der Katze an meinem Ellbogen ein.
Mein Schlaf ist traumlos.
Jemand schüttelt mich. » Hey, du Schlafmütze, steh auf. «
Großvater reicht mir eine Tasse von seinem mörderisch starken Kaffee, aber an diesem Morgen kann ich ihn gut gebrauchen. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand Sand reingekippt.
Als ich meine Hose anziehe, greife ich automatisch in die Taschen und merke, dass etwas fehlt. Das Amulett. Moms Amulett, das ich Maura geben wollte.
Zur Erinnerung.
Ich gehe auf alle viere und krieche unter das Bett. Staub, Taschenbücher, die ich seit Jahren vermisse, und dreiundzwanzig Cents.
» Was suchst du denn? « , fragt Großvater.
» Nichts « , sage ich.
Als wir klein waren, stellte Mom Philip, Barron und mich manchmal nebeneinander und ermahnte uns, dass die Familie alles wäre, dass es außer uns niemanden gebe, auf den wir uns verlassen könnten. Dann berührte sie uns mit bloßen Händen an der Schulter, jeden einzeln, sodass wir von Liebe zueinander überflutet wurden, vor Liebe erstickten.
» Versprecht euren Brüdern, dass ihr einander für alle Zeiten lieben werdet und dass ihr zu allem bereit seid, um einander zu beschützen. Ihr werdet einander nie wehtun. Ihr werdet einander nie etwas wegnehmen. Die Familie ist das Allerwichtigste. Niemand wird euch jemals so sehr lieben wie eure Familie. «
Dann umarmten wir uns, weinten und versprachen es.
Gefühlswerk lässt nach einigen Monaten nach, und ein Jahr später kommt man sich blöd vor, wenn man überlegt, was für einen Quatsch man danach gesagt und getan hat. Doch man vergisst nicht, wie es war, von diesen Gefühlen überschwemmt zu werden.
Das waren die einzigen Augenblicke, in denen ich mich sicher gefühlt habe.
Mit der Kaffeetasse in der Hand gehe ich nach draußen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Luft ist kalt und frisch, ich sauge sie ein wie ein Ertrinkender.
Manchmal fällt einem etwas aus der Tasche, rede ich mir ein, und beschließe, im Auto nachzusehen, ehe ich komplett durchdrehe. Falls ich das Amulett dort finde, in einer Ritze oder auf der Bodenmatte funkelnd, werde ich mir dämlich vorkommen. Hoffentlich denke ich gleich, wie dämlich ich doch bin.
Aus einem Impuls heraus klappe ich mein Handy auf. Es verzeichnet mehrere Anrufe in Abwesenheit von meiner Mutter– es muss sie wahnsinnig machen, dass sie mich nicht auf dem Festnetz anrufen kann–, aber ich beachte sie nicht und rufe Barron an. Ich brauche jemanden, der mir ein paar Fragen beantwortet und bei dem ich darauf vertrauen kann, dass er mich nicht schont. Der Anruf landet direkt auf seiner Mailbox. Ich stehe da, drücke immer wieder aufWahlwiederholung und lausche dem Klingelton. Ich weiß nicht, wen ich noch anrufen kann. Endlich komme ich auf die Idee, direkt auf seinem Zimmer anzurufen.
Dafür muss ich erst mal bei der Zentrale in Princeton anrufen. Sie können sein Zimmer anscheinend nicht finden, aber ich kenne den Namen seiner Mitbewohnerin.
Ein Mädchen geht ans Telefon, mit einer kehligen, weichen Stimme, als hätte ich sie geweckt.
» Oh, hey « , sage ich. » Ich würde gern mit meinem Bruder Barron sprechen. «
» Barron ist nicht mehr hier « , sagt sie.
» Was? «
» Er hat sein Studium vor ein paar Monaten abgebrochen. « Jetzt klingt sie nicht
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