Weißer Schatten
verstärkte sich ihre Angst noch. In ihrer Hast stieß sie mit einem
dumpfen Krachen gegen die hölzerne Hintertür. Ihre Hände zitterten, als sie die Riegel öffnete und den Schlüssel im Schloss
drehte. Kaum hatte sie die Tür aufgerissen, hörte sie ein Splittern im Flur, Glas zerbarst. Die Eingangstür war offen. Die
Männer waren in ihr Haus eingedrungen.
Sie machte einen Schritt nach draußen und hielt inne. Dann kehrte sie zurück in die Küche, um sich ein Trockentuch von der
Spüle zu greifen. Sie wollte sich damit bedecken. Später sollte sie sich über dieses irrationale Handeln ärgern, aber es war
instinktiv. Und sie zögerte eine weitere Sekunde. Sollte sie sich eine Waffe nehmen, ein Küchenmesser? Sie unterdrückte den
Impuls.
Dann rannte sie ins helle Sonnenlicht, das Trockentuch vor die Brust gedrückt. Ihre sorgfältig gepflasterte Terrasse war sehr
schmal.
Emma le Roux schaute die hohe Betonmauer an, die sie schützen sollte und die Welt draußen hielt. Jetzt schloss die Mauer sie
ein. Zum ersten Mal schrie sie: »Hilfe!« Eine Bitte an die Nachbarn, die sie nicht kannte, denn in diesem Teil Kapstadts hielt
man sich von den anderen fern und zog jeden Abend die Zugbrücke hoch, um für sich zu bleiben. Sie konnte die Männer hinter
sich im Haus hören. Einer rief etwas. Sie bemerkte die schwarze Mülltonne vor der Betonmauer – eine Treppe in die Sicherheit.
»Hilfe!«, rief sie über die jaulenden Alarmwellen hinweg.
Emma konnte sich nicht erinnern, wie sie über die Mauer gelangt war, aber sie schaffte es in ein oder zwei adrenalingetriebenen
Bewegungen. Das Trockentuch blieb dabei zurück, sodass sie mit leeren Händen im Garten ihres Nachbarn landete. Ihr linkes
Knie schrammte an irgendetwas entlang. Sie spürte keinen Schmerz, erst später würde ihr der kleine Riss im Jeansstoff auffallen.
|13| »Helfen Sie mir!« Ihre Stimme klang schrill und verzweifelt. Emma rannte auf die Hintertür ihres Nachbarn zu. »Helfen Sie
mir!«
Sie hörte, wie die Mülltonne umfiel, und wusste, dass die Männer mit den Sturmhauben dicht hinter ihr waren. Die Tür vor ihr
öffnete sich, und ein grauhaariger Mann in einem roten Morgenmantel mit weißen Punkten trat heraus. Er hatte ein Gewehr in
der Hand. Über seinen Augen wucherten silberne Brauen, die auf seiner Stirn wie Schwingen aussahen.
»Helfen Sie mir«, sagte sie mit Erleichterung in der Stimme.
Der Nachbar sah sie einen Augenblick lang an, eine erwachsene Frau mit jungenhafter Figur. Dann zog er die Augenbrauen hoch
und wandte seinen Blick der Mauer hinter ihr zu. Er hob das Gewehr auf Schulterhöhe und zielte damit auf die Mauer. Emma hatte
ihn nun beinahe erreicht und sah sich um. Eine Balaclava erschien für einen Moment über dem Beton.
Der Nachbar drückte ab. Der Schuss hallte von den zahlreichen Mauern um sie herum wider, und die Kugel schlug mit einem eigenartigen
Geräusch in die Wand ihres Hauses. Drei oder vier Minuten lang konnte sie nichts hören. Sie stand dicht neben ihrem Nachbarn
und zitterte. Er sah sie nicht an. Er lud durch. Eine Patronenhülse klimperte auf den Zement, tonlos für ihre tauben Ohren.
Der Nachbar behielt die Mauer im Visier.
»Dreckschweine«, sagte er, während er über den Lauf schaute. Er schwang das Gewehr langsam horizontal, um die ganze Breite
abzudecken.
Emma wusste nicht, wie lange sie dort standen. Die Angreifer waren verschwunden. Mit einem Rauschen kehrte ihr Hörvermögen
zurück, dann nahm sie erneut den Alarm wahr. Schließlich ließ der Nachbar langsam das Gewehr sinken und fragte sie mit einer
osteuropäisch klingenden Stimme voller Sorge: »Ist alles in Ordnung, meine Liebe?«
Sie begann zu weinen.
|14| 2
Der Name ihres Nachbarn lautete Jerzy Pajak. Er führte sie in sein Haus. Er bat seine Frau Alexa, die Polizei zu verständigen,
und dann sorgten sie sich gemeinsam, mit polnischem Akzent sprechend, um sie. Jerzy gab ihr eine leichte Decke, um sich darin
einzuhüllen, und süßen Tee. Später gingen sie mit Emma und zwei Polizisten zurück zu ihrem Haus.
Das Sicherheitsschloss aus Stahl hing schief, und die hölzerne Eingangstür war nicht mehr zu reparieren. Der farbige Polizist
war der höherrangige der beiden, mit Streifen auf der Schulter seiner schicken Uniform. Emma dachte, er sei ein Sergeant,
aber weil sie nicht sicher war, sprach sie beide als »Mister« an. Er bat sie, zu überprüfen, ob etwas gestohlen worden sei.
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