Weisser Schrecken
Tag Games zocken. Unwillkürlich warf Robert einen Blick auf den schlanken Kirchturm, der wie ein mahnender Finger über den verschneiten Hausdächern Perchtals aufragte. Elke und Miriam langweilten sich jetzt sicher mit ihren Eltern beim Sonntagsgottesdienst. Wenn diese religiösen Spinner ihre Töchter in seiner Gesellschaft erblickten, dann gab es jedes Mal Ärger. Dass die hübschen Zwillingsschwestern bei alledem normal geblieben waren, grenzte fast an ein Wunder. Erst letzte Woche hatte Miriam ihnen anvertraut, dass sie und Elke aus Perchtal abhauen wollten, sobald sie beide volljährig waren. Er und Andy hatten den beiden bereits angeboten, eine WG zu gründen, wenn es soweit war. Vielleicht in Nürnberg. Das war weit genug weg. Doch bis dahin war es noch einige Zeit hin. Drei scheiß lange Jahre. Niklas war wahrscheinlich der Einzige von ihnen, der hier in Perchtal versauern würde. Die arme Sau wurde von seiner Mutter ja fast zu Tode gemästet. Niklas’ Eltern gehörte die Bäckerei im Ort, und so gab es bei ihm zu Hause keinen Mangel an Süßem. Das war zwar gut für Andy, die Mädels und ihn selbst, aber schlecht für Niklas. Denn wenn der so weiterfraß, dann war er vermutlich schon bald so dick, dass er nicht mehr durch eine Tür passte. Dabei war Niklas echt schlau. Abgesehen von Sport hatte er überall Einser in seinem Zeugnis stehen. Ohne seine Nachhilfestunden hätten er und Andy die letzte Klasse garantiert nicht geschafft.
Robert schloss das Fenster wieder, gürtete sich die schwarze Lederhose umständlich mit einem seiner Nietengürtel und schlüpfte in die Dog Martens, die sich Andy für ihn bei seinem Vater bestellt hatte. Die Stiefel waren Roberts ganzer Stolz, und manchmal verbrachte er den ganzen Nachmittag damit, sie zu putzen. Seine Mutter hätte die Kohle für Stiefel wie diese nie zusammengebracht. Taschengeld hatte Robert gerade so viel, dass es zweimal die Woche für Drehtabak bei Aldi reichte. Obwohl, eigentlich musste er sich das Taschengeld selbst vom Haushaltsgeld abzweigen. Seine Mutter vergaß ihn regelmäßig. Wenn sie überhaupt Geld für ihn über hatte.
Robert wechselte den Totenkopfsticker an seinem rechten Ohrläppchen gegen eine übergroße Sicherheitsnadel aus und atmete noch einmal tief ein. Er wusste selbst, dass er versuchte, Zeit zu schinden. Und doch würde ihn das nicht davor bewahren, endlich rüberzugehen und die Sache hinter sich zu bringen. Möglichst bevor Andy hier auftauchte.
Er schaltete den Ghettoblaster aus, blies die Kerzen in Zimmer und Bad aus und stiefelte in den Flur. Behutsam klopfte er gegen die Schlafzimmertür seiner Mutter und öffnete sie. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen, die unangenehm nach Schweiß roch. Im Halbdunkel konnte er das Bett seiner Mutter ausmachen. Es stand direkt neben dem alten Schminktisch, auf dem schemenhaft Lockenwickler und Bierdosen zu sehen waren. Schuhe, Blusen und Röcke lagen achtlos herum, und auf einem Stuhl neben dem Kleiderschrank stapelte sich zwei Monate alte Bügelwäsche. Aber das hier war auch das einzige Zimmer im Haus, das aufzuräumen sich Robert weigerte. Viel entscheidender war, dass das Bett leer war. Scheiße, er hatte es geahnt.
Robert zog die Tür missmutig zu und ging hinüber zum Wohnzimmer, von wo ihm das leise Geräusch des laufenden Fernsehers entgegenschallte. Auf SAT1 lief die Wiederholung vom Glücksrad. Der Geruch nach billigem Weinbrand wurde intensiver, außerdem mischte sich in den Alkohohldunst ein säuerlicher Gestank, der Robert nur zu vertraut war. Kotze.
Ihm wurde schlecht, und er hielt die Luft an, als er das Zimmer betrat. Als Erstes zog er die zerschlissenen Vorhänge zurück, sodass Licht ins Zimmer fiel. Dann riegelte er das Fenster auf und öffnete es. Kalte klare Luft drang ins Zimmer. Robert war egal, dass ihn fröstelte. Auf dem Wohnzimmertisch standen wie immer einige Flachmänner sowie eine halb volle Flasche Maria Cron. Eine weitere Flasche mit Weinbrand hielt seine Mutter in der Hand. Sie saß noch immer angezogen im Fernsehsessel und war nur notdürftig mit einer Wolldecke bedeckt. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht lehnte schlaff gegen die Kopflehne, die Augen waren geschlossen, und im linken Mundwinkel klebten hervorgewürgte Essenreste, die auch ihren blauen Arbeitskittel an der Schulter bedeckten.
Robert konnte nur raten, wann genau seine Mutter mit dem Saufen angefangen hatte. Vermutlich um sein fünftes oder sechstes Lebensjahr herum, als sein Vater abgehauen
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