Weisser Schrecken
am schwärzesten und unsere Verzweiflung am größten war. Hilf ihnen der Sünde zu widerstehen. Hilf ihnen, ein Leben nach deinen Geboten zu leben.«
Elke saß unangenehm berührt am Esszimmertisch, um den sich ihre Familie versammelt hatte. Der Tisch war leer, abgesehen von einer gebügelten Spitzendecke aus Leinen, auf der ein herrlich nach Tannengrün duftender Adventskranz stand. Zwei der vier Kerzen brannten, doch Elke ignorierte den sanften Schein der Flammen. Vielmehr beobachtete sie argwöhnisch ihren Vater, der sich mit inbrünstig gefalteten Händen vor dem Tisch aufgebaut hatte. Wie immer hatte er seinen Vollbart sorgfältig getrimmt; mit seinem weißen Haar sah er fast ein wenig so aus wie der Alpöhi, Heidis Großvater aus der bekannten Trickfilmserie. Nur, dass in seinem Blick keine Güte lag, sondern bittere Enttäuschung. Seine Lippen zitterten. »Denn nur du, Herr, weißt, was du unseren beiden Engeln bestimmt hast. Wir … wir anderen sind nur deine getreuen Diener, die versuchen, ihnen den Weg zu ebnen, damit sie diesen deinen Willen erfüllen können.«
Elke saß ihrer Zwillingsschwester Miriam gegenüber, die ebenso wie sie selbst vorsichtshalber eine demütige Pose eingenommen hatte und die Hände sittsam über dem Tisch gefaltet hielt. Beide waren sie in strahlend weiße Kleider gehüllt, deren Schnitt dem letzten Jahrhundert zu entstammen schien und die sie unter Anleitung ihrer Mutter selbst hatten nähen müssen. Die Rüschen an Kragen und Ärmeln kratzten auf der Haut, und ebenso wie Elke trug auch ihre Schwester die langen blonden Haare heute zu züchtigen Haarzöpfen geflochten, die seitlich über die schmalen Schultern fielen. Der ganze Aufzug war total peinlich, doch sonntags bestanden Vater und Mutter darauf, dass sie sich so kleideten. Unmerklich verdrehte Miriam die Augen. Elke wusste, dass auch sie nicht den leisesten Schimmer hatte, warum sie beide überhaupt ins Esszimmer zitiert worden waren.
Mutter sagte zu allem natürlich nichts. Sie saß am Tischende und betete leise das Vaterunser. Elke hoffte inständig, dass sie nie so werden würde wie ihre Mutter. Ändern würde sich diese wohl nicht mehr. Ebenso wie ihr Vater hatte sie die 55 bereits überschritten, und ihr verhärmtes Äußeres war in eine schlichte rosafarbene Strickjacke gehüllt, die irgendwie nicht zu dem abgetragenen grauen Rock und der altmodischen Bluse passte, die sie trug. All das machte sie viel älter, als sie sowieso war. Bizarrerweise passte die Jacke zu dem graustichigen Haar, das ihre Mutter zu einem Dutt hochgesteckt trug.
Und doch war heute irgendetwas anders. Statt gemeinsam in die Kirche zu gehen, wie sie es sonntags immer taten, hatte Vater sie und Miriam vorhin nach oben auf ihr Mädchenzimmer verbannt, während unten in der Küche Streit zu hören gewesen war. Anschließend hatten ihre Eltern offenbar Zuflucht im Gebet gesucht, wie sie es immer taten, wenn sie um eine Entscheidung rangen, denn es war eine Weile ruhig im Haus geworden. Worum es bei alledem ging, war den Schwestern verborgen geblieben. Doch es musste sich um etwas Ernstes drehen, denn der Adventsgottesdienst war inzwischen längst vorüber, und den hatten ihre Eltern noch nie ausfallen lassen.
Hoffentlich hatten ihre Eltern nicht den Walkman gefunden, den sie und Miriam in der Gartenlaube versteckt hielten. Oder die anderen Sachen.
Ihr Vater griff nun nach dem Holzkreuz mit dem Heiland über der Esszimmerkommode, hob es andächtig von der Wand und küsste die Jesusfigur. »Wie heißt es in Psalm 137?« Er schloss die Augen und rezitierte: »Herr, vergiss den Söhnen Edoms nicht den Tag von Jerusalem; sie sagten: ›Reißt nieder, bis auf den Grund reißt es nieder! Tochter Babel, du Zerstörerin! Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!‹« Unvermittelt drehte er sich um, sodass ihm die Zwillinge ins Gesicht blicken konnten. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Sagt selbst, soll es so weit kommen? Haben wir nicht stets versucht, das Böse von euch fernzuhalten? Haben wir euch nicht stets ermahnt, tugendhaft zu bleiben und ohne Laster?« Miriam warf Elke einen alarmierten Blick zu, die erst jetzt begriff, dass ihr Vater nun mit ihnen sprach.
»Ja, Vater, hast du!«, antwortete Elke rasch. Himmel, wenn sich ihr Vater so aufführte wie heute, bekam sie regelrecht Angst vor ihm. Mit jedem Jahr, das sie und Miriam älter wurden, wurde der religiöse
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