Weisser Schrecken
versucht hatte, immer auf der Flucht vor sich selbst und seiner Vergangenheit. Er hasste es, dass er sich nicht besser im Griff hatte. Betreten ließ er Miriam los und blinzelte die Tränen fort. »Tut mir leid.«
»Nein, ist schon gut.« Auch Miriams Augen schimmerten feucht. »Robert hat erzählt, du seiest heute Kinderarzt?«
»Ja. Ärzte ohne Grenzen. Hauptsache weit weg von hier.«
»Elke wollte auch Kinderärztin werden.«
»Ich weiß.« Andreas lächelte wehmütig. »Sie hat es mir damals erzählt. Ich dachte … Ach, verdammt, ich war ihr das einfach schuldig.« Miriam betrachtete ihn lange und drückte seine Hand. »Ich bin mir sicher, sie wäre sehr glücklich über deine Entscheidung gewesen.«
»Und du? Bist du jetzt wirklich Apothekerin?«
Miriam lächelte. »Davon hat sie dir ebenfalls erzählt?«
»Könnt ihr eure Wiedersehensfeier auf später verschieben?«, murrte Niklas. »Ihr könnt auch Morgen noch in alten Erinnerungen schwelgen.« Neugierig betrachtete er den Kasten, den Miriam mitgebracht hatte. »Der Stab, hoffe ich.«
»Sicher. Ich habe ihn doch nicht umsonst all die Jahre gehütet.« Miriam entledigte sich ihrer Jacke und hängte sie im Flur auf. Niklas und Robert trugen den Kasten bereits ins Wohnzimmer. Andreas hielt Miriam kurz auf und flüsterte. »Die beiden haben ein kleines Mädchen entführt. Es liegt da drüben.« Er deutete zum Gästezimmer. »Ja, ich weiß.«
»Du wusstest das?«
»Andy, glaubst du, mir tut das Mädchen nicht aus tiefstem Herzen leid?« Sie senkte ihren Blick. »Wir hadern mit dieser Entscheidung jetzt schon seit acht langen Jahren. Solange ist es her, seit Niklas sich wieder mit Robert und mir in Verbindung gesetzt hat. Und in all der Zeit haben wir quasi jede moralische Erwägung in Betracht gezogen, immer in der Hoffnung, einen anderen Weg zu finden. Aber wie wir es auch drehen und wenden, uns fällt verdammt noch einmal keine andere Lösung ein, um all die anderen Kinder zu retten. Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Nicht jetzt, Andy. Vertraue mir einfach.« Miriam drückte seine Hand und begab sich nun ebenfalls ins Wohnzimmer, wo Robert und Niklas bereits über den Kasten gebeugt standen. Andreas folgte ihr verwirrt.
»Drei Schlösser«, meckerte Niklas. »Du wolltest offenbar auf Nummer sicher gehen?«
»Natürlich. Ich hab nicht einmal mehr der Bank vertraut«, meinte Miriam. »Dort hatte ich den Stab deponiert, nachdem bei mir damals eingebrochen wurde.«
»Bei dir wurde eingebrochen?«, fragte Andreas. Miriam nickte und schloss den Kasten auf. »Ja, vor neun Jahren. Wir befürchten, dass noch immer jemand hinter dem Stab her sein könnte.«
»Mein Gott, habt ihr einen Verdacht, wer das war?«
»Köhler ist nie gefunden worden«, brummte Niklas. »Keiner von uns weiß, ob er nicht vielleicht doch überlebt hat.« Andreas sah ihn alarmiert an. »Und was ist mit Liesel Kahlinger? Oder Wastl und Lugge?«
»Nein.« Robert schüttelte den Kopf. »Die wissen bis heute nicht, was da oben in den Bergen in Wahrheit vor sich gegangen ist. Liesel fuhrt jetzt das Geschäft ihrer Eltern und meidet uns. Lugge und Wastl hingen arbeiten heute unten in Berchtesgaden als Lagerarbeiter. Lugge kam uns zwar einmal blöd, aber wir haben ihm klargemacht, dass wir jederzeit zur Polizei gehen könnten, um ihm und seinen Freunden die Explosion anzuhängen. Die hat immerhin ganz offiziell sechs Menschen das Leben gekostet. Die Polizei geht sogar davon aus, dass Köhler und Konrad damals ebenfalls von ihr verschüttet wurden. Solange die glauben, man könne sie für den Tod all der Lawinenopfer zur Rechenschaft ziehen, solange haben wir vor ihnen nichts zu befürchten.«
»Trotzdem«, widersprach Andreas. »Wir dürfen nicht ausschließen, dass einer von ihnen mehr weiß, als uns lieb sein kann.« Robert, Niklas und Miriam warfen sich nachdenkliche Blicke zu.
»Ich halte die Drei ehrlich gesagt nicht für intelligent genug«, meinte Miriam.
»Letztlich ist es auch völlig egal«, meldete sich Robert zu Wort. »Denn eines verspreche ich euch: Wenn uns da unten jemand in die Quere kommt, knalle ich ihn ab. Egal, wer das ist.« Andreas setzte sich. Miriam klappte die Kiste endlich auf und präsentierte den alten Holunderstab, der sich im Licht der Zimmerlampe als knorriger Ast entpuppte, den eine seltsame Laune der Natur an der Spitze wie ein Schneckengehäuse eingedreht hatte. Andreas seufzte innerlich. Er begann schon wieder, sich etwas vorzumachen. Dieser
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