Weisser Schrecken
Singsang fortsetzte.
In diesem Moment schoss Elke. Abermals jagte ein rot glühendes Leuchtgeschoss durch die Höhle und diesmal traf der glühende Flammenball Köhler vor der Brust, wo sich die Kugel fauchend und qualmend durch seine Kleidung brannte. Ihr Lehrer schrie auf, fuchtelte wild mit den Armen und taumelte nach hinten. Andreas warf sich nach vorn, um den Stab zu packen. Aus Köhlers Jacke schlugen jetzt grelle Stichflammen und alles war voller Rauch. Ihr Lehrer schrie wie am Spieß und war so mit sich selbst beschäftigt, dass ihm Andreas den Stab entreißen konnte. Köhler verlor sein Gleichgewicht und versuchte noch, nach ihm zu greifen. Erfolglos. Schreiend kippte er hintenüber in den Spalt und stürzte in die Dunkelheit. Andreas blieb keine Zeit, sich über den Sieg zu freuen, denn im nächsten Moment wurde sein Bewusstsein von einer Flut an Bildern überschwemmt. Er sah sich ein Zeugnis mit lauter Einsen entgegen nehmen. Er sah, wie sein Vater lachend mit ihm in einem Segelboot saß und ihm anerkennend die Schulter klopfte. Er sah sich umgeben von hübschen Mädchen, eine jede von ihnen schöner als Elke. Er sah sich mit der Gitarre in der Hand auf einer Bühne stehen, vor ihm tausende begeisterter Fans, die mit ihren Feuerzeugen ein Lichtermeer erschufen. Und er hörte eine knirschende Stimme, wie brüchiges Eis, die sich schmeichlerisch über all die wunderbaren Bilder legte: BEFREIT MICH UND ICH BEFREIE EUCH! Andreas keuchte erschrocken auf, blinzelte und versuchte die lockenden Traumgespinste zu verdrängen. TUT ES, ODER ICH ZWINGE EUCH DAZU!
»Niemals!« Panisch schleuderte Andreas den Stab mit den angefrorenen Händen von sich, der nun klappernd auf dem Höhlenboden landete. Sogleich verebbten die vielen Bilder und ein lautes Heulen und Brausen erfüllte die Höhle. Andreas sah nun, dass auch seine Freunde vor dem Plateau den Eindruck erweckten, als würden sie aus einer Trance erwachen. Robert richtete sich keuchend und mit verwundertem Blick auf, Miriam blinzelte und schlug um sich, als wolle sie etwas abwehren und Elke stand neben dem Stein, hinter dem sie auf Köhler geschossen hatte, und fasste sich ächzend an den Kopf. Einzig Niklas lächelte verzückt und seufzte immerzu.
Wütende Winde stoben in diesem Moment vor der Felswand mit dem eingeschlossenen Monstrum auf und formten aus dem Schnee gespenstische Greifarme, aus deren Fingern blitzende Krallen wuchsen. Um Gottes Willen, was war das? »Passt auf! Hinter euch!« Andreas krabbelte zur Vorderkante des Plateaus, und sah, dass seine Freunde bereits panisch auf ihn zustolperten. Roberts Gesicht wies eine fürchterliche Prellung auf, doch er schleppte Niklas mit sich, der sich eher trotzig fügte. Elke indes stützte ihre Schwester Miriam, auf deren Jacke sich Blut abzeichnete. Köhler musste sie mit seinem Spikes schlimmer erwischt haben, als er gedacht hatte. Andreas half ihnen rasch zu sich nach. Miriam sank stöhnend auf den Felsen, während die fürchterlichen Greifarme aus Schnee und Frost hohen Schneewehen gleich über den Höhlenboden wanderten, mal hierhin und mal dorthin, so, als würden sie nach ihnen suchen. »Die Fackeln!«, brüllte Andreas. »Entzündet die Fackeln!«
Da entdeckte er unten am Felsen eine Bewegung. Es handelte sich um Konrad. Andreas hatte den Schlachtersohn angesichts des Kampfes völlig vergessen. »Konrad, schnell, komm hoch zu uns!« Andreas und Robert streckten ihre Hände aus, doch Konrad sah sie entsetzt an. »Verreckt doch da oben allein«, brüllte er. »Ich hau ab!« Er packte die am Boden liegende Feuerwehraxt und rannte wild mit ihr um sich schlagend auf den erhöht liegenden Höhlenausgang zu. Drei der eisigen Greifarme jagten sogleich hinter ihm her, peitschten wie hohe Wellen auf ihn zu und begruben ihn unter sich, bevor er auch nur die Hälfte der Wegstrecke geschafft hatte. Blut spritzte empor. Alles, was sie von ihm hören konnten, war ein grausiger Schrei, der in hackenden, knirschenden und malmenden Geräuschen unterging, bevor die seltsamen Gebilde den zerfleischten Körper auf den Spalt in der Wand zuschleiften. Der frostige Kerker erzitterte, als würde sich das Ungetüm darin bewegen. Schneestaub rieselte zu Boden.
Niklas drängte sich vor und sah die Szene mit an. Andreas schob ihn energisch wieder hinter sich, als sich weitere Greifarme aus dem gefrorenen Untergrund schraubten und sich nun auf das Plateau zubewegten. Elke zielte mit ihrer Pistole und feuerte die letzte
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