Weisser Schrecken
Lippen aufeinander, dabei hätte er Niklas und Robert am liebsten ungespitzt in den Boden gerammt. »Hier in Perchtal leben genau 147 Kinder und Jugendliche im kritischen Alter«, fuhr Niklas erbarmungslos fort. »Die Kleine ist eine von ihnen. Wir stehen vor einer recht einfachen Wahl: Entweder sie – oder alle 147. Aber offenbar sind dir die 147 lieber.«
»Fick dich!« Andreas entriss Robert den Flachmann und nahm einen Zug. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, und doch hätte er sich am liebsten mit dem Zeug vollaufen lassen. Er verachtete seine Freunde. Ebenso, wie er sich selbst dafür verachtete, dass er all die Jahre über seinen Kopf in den Sand gesteckt hatte. Als hätten die Geschehnisse vor 16 Jahren gar nicht stattgefunden. Robert nahm ihm den Flachmann ab und betrachtete ihn niedergeschlagen. »Andy, ich bin in deinen Augen ja vielleicht nur noch ein alter Säufer, aber bitte glaube mir, dass mir das ganze schon seit Jahren schlaflose Nächte bereitet. Keiner von uns will dem Mädchen ein Leid zufügen. Aber was sollen wir denn tun? Wenn wir nicht dafür sorgen, dass sie sich opfert, geht die ganze Jugend Perchtals zugrunde.«
»Denkst du, das macht es besser?« Andreas wusste selbst, dass er bloß einen Sündenbock für seine eigene Feigheit suchte. Die bittere Wahrheit war, dass die beiden recht hatten. Sie wussten keinen anderen Weg, um dieses Etwas da unten im alten Salzbergwerk aufzuhalten. Und die vielen Generationen an Erwachsenen vor ihnen, hatten offenbar ebenfalls keinen anderen Weg gekannt.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Robert steckte den Flachmann weg und eilte den Flur runter, um durch den Spion zu blicken. Erst, als er sich versichert hatte, dass ihnen nicht ungebetener Besuch ins Haus stand, öffnete er die Tür. Im Schneetreiben vor dem Haus stand Miriam. Sie war mit Jeans und brauner Felljacke bekleidet und hielt einen fast zwei Schritt hohen Ebenholzkasten in den Armen. Aus ihr war eine verdammt hübsche Frau geworden. Die blonden Haare trug sie heute halblang und sie begrüße Robert mit einem flüchtigen Kuss, beschränkte sich bei Niklas jedoch mit einem knappen Schulterklopfen. Sie erblickte ihn nun ebenfalls und Andreas beschlich ein vertrautes Gefühl, so als wären nicht 15 lange Jahre verstrichen, seit sie beide sich zum letzten Mal gesehen hatten. »Hi Miriam!«
»Hi Andy!« Sie lächelte scheu. »Du bist also tatsächlich gekommen? Das ist gut.« Sie beide traten verlegen aufeinander zu, dann lagen sie sich in den Armen. Andreas konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. All die Jahre hatte er die Geschehnisse seiner Jugend verdrängt, doch jetzt, in diesem Augenblick, überwältigte ihn der Schmerz jener Dezembernacht im Jahre 1994 als sei es gestern gewesen. Er dachte an Elke zurück und an die Unschuld, die sie mit ihrem Tod allesamt verloren hatten. An jenem sechsten Dezember im Jahre 1994 war ihre Kindheit unwiderruflich zu Ende gewesen. Vor seinem geistigen Auge stiegen wieder die Bilder auf, wie sie Elkes Leichnam aus dem Berg getragen und zu den verschütteten Erwachsenen auf der Lichtung gelegt hatten. Wie sie noch in der gleichen Nacht den Zugang zum Bergwerk mit dem übrigen Sprengstoff Köhlers verschlossen hatten. Und wie sie den Polizisten aus Berchtesgaden zwei Tage später die Geschichte von der Nachtwanderung und dem nachfolgenden Lawinenunglück aufgetischt hatten. Danach war nichts mehr wie zuvor gewesen. Alle im Ort glaubten damals, dass Niklas’ Mutter durch den Verlust ihres Mannes verrückt geworden sei. Man hatte sie bereits wenige Tage später in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, wo sie vielleicht noch heute lebte. Niklas selbst war zu entfernten Verwandten nach Bad Reichenhall geschickt worden. Miriams Mutter hingegen hatte seit der Nikolausnacht 1994 kein Wort mehr gesprochen, während sich Roberts Mutter nur noch mehr dem Suff ergeben hatte. Und Köhler? Soweit er wusste, hatte der Berg ihn verschluckt. Man hatte ihn nie gefunden.
Andreas bedauerte es nun, dass er sich in den darauf folgenden Monaten so sehr von Miriam und Robert abgekapselt hatte. Er selbst war irgendwann vor Kummer aus Perchtal abgehauen und hatte einige Zeit bei seinem Vater in Berchtesgaden verbracht, wo er natürlich nicht willkommen war. Bereits mit 16 Jahren hatte er dann eine eigene Bude in der Stadt bezogen und die Einsamkeit war fortan sein Begleiter geworden. Ein Empfindung, die er mit Arbeitswut zu ersticken
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