Weißer Teufel
ließ sich neben Andrew nieder. »Dies ist kein Schachspiel, wo man eine Figur opfert, um eine andere zu schützen. Wir passen auf dich auf. Wenn wir dich verlieren, hat Harness gewonnen. Bitte sag nie wieder so was Dummes.«
»Was ist mit Roddy und Persephone? Mit Theo? Ihnen ginge es gut, wenn ich nicht …«
»Wenn John Harness nicht wäre«, fiel ihm Fawkes energisch ins Wort. »Er ist derjenige, der ihnen das angetan hat. Du bist nicht schuld. Verstehst du das?«
Andrew nickte widerstrebend.
»Gut. Und jetzt will ich nichts mehr von dir hören, bis du etwas gegessen hast.«
Er sah zu, wie Andrew zwei Käsesandwichs verschlang. Und er spülte mit heißem, stark gesüßtem Tee nach. Dann wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Biskuits?«, bot Dr. Kahn an.
Andrew aß vier zu einer zweiten Tasse Tee.
»Und jetzt«, kommandierte Fawkes, »rede.«
Andrew seufzte. »Ich habe den Mord gesehen«, sagte er. »Von Anfang bis Ende.« Er schilderte seine Vision.
»Das Three Arrows ist sehr alt«, sagte Dr. Kahn. »Seit dem sechzehnten Jahrhundert steht an der Stelle ein Gasthaus, ein Inn oder eine Herberge.«
»Komisch, Montague sagte etwas, als er das Hotel als vorübergehende Unterkunft für dich empfahl«, sagte Fawkes. »Er meinte, nur Leute, die zum Speech Day herkommen, würden dort logieren.«
»Leute, die zum Speech Day kommen – wie Byron im Jahr 1809?«, fragte Andrew.
»Solche Traditionen halten sich hartnäckig«, meinte Dr. Kahn.
»Dann hätte der Mord im Three Arrows passieren können«, sagte Fawkes. »Vielleicht war Byron ausgegangen, um Freunde zu besuchen. Harness hat Byrons neuen Liebhaber allein in dem Zimmer angetroffen …«
Andrews Gesicht verdüsterte sich. »Eines habe ich noch nicht erwähnt. Sein Opfer war ein Mädchen.«
»Was?«
»Ihre Kappe war verrutscht, und ich habe ihre Haare gesehen. Sie war nur wie ein Junge angezogen .«
»Aber wer war sie?«, wollte Fawkes wissen.
Andrew wirkte schwer getroffen und schrie plötzlich: »Wer war es? Sag es mir!«
Fawkes und Dr. Kahn erschraken.
»Das hat Harness zu mir gesagt«, erklärte er. »Als ich ihn in der Zisterne sah. Wer war es? Sag es mir! « Andrew schwirrte der Kopf. »Zu der Zeit kam mir das vollkommen fehl am Platze vor. Aber jetzt verstehe ich. Er hat die falsche Person ermordet. Und er wusste, dass er zu krank war, um noch einmal zu töten.« Andrew dachte darüber nach.»Er weiß offenbar nicht, wen er ermordet hat. Er muss gestorben sein, ohne es herausgefunden zu haben. Deshalb müssen wir es aufdecken. Aber uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Was meinst du damit?«, fragte Fawkes.
»Am Ende veränderte sich das Gesicht des Opfers in das von Persephone«, erklärte Andrew mit belegter Stimme. »Als ob mir Harness sagen wollte, dass sie die Nächste ist.«
»Nicht, wenn wir unsere Sache richtig machen«, widersprach Fawkes. »Was ist das für neues Material, das du in die Tasche gesteckt hast?«
Andrew beförderte einen Ausdruck von Dr. Cades Website, eine detaillierte Chronologie von Byrons Leben in den Jahren 1808 und 1809 zutage. Das Jahr 1809 begann mit vernichtenden Kritiken an seinem ersten Gedichtband. Hours of Idleness. Um die Enttäuschung zu vergessen, führte er ein ausschweifendes Leben, borgte sich Geld für Kleidung, Kutschen, Alkohol, Prostituierte; im Juni fuhr er nach Harrow – wie sich jetzt herausgestellt hatte, zum Speech Day. Und anschließend widmete er sich plötzlich den Vorbereitungen für seine Reise durch Europa.
»Nun, dieses Geheimnis ist gelüftet. Der Mord hat Byron veranlasst, England zu entfliehen«, bemerkte Fawkes. »Er hat eine Tote in seinem Hotelzimmer gefunden und hatte Angst, als Mordverdächtiger vor Gericht zu landen.«
»Oder«, sinnierte Andrew, »er ist weggegangen, weil er am Boden zerstört war.«
»Nur, wenn ihm das Mädchen viel bedeutet hat. Kann das sein?« Dr. Kahn wandte sich an Fawkes.
»Hm?«
»Trotz all der Knaben «, sagte Dr. Kahn, »ist es möglich,auch Frauen zu lieben, wissen Sie. Gibt es irgendwelche Hinweise, dass Byron zu der Zeit eine ernsthafte Beziehung zu einem Mädchen hatte?«
»Einem Mädchen …«
Fawkes zündete sich eine Zigarette an und hielt sich eine Seite der Chronologie vor die Nase. Seine Miene wirkte gedankenverloren, als würde er ein ganz bestimmtes Problem wälzen.
Andrew und Dr. Kahn sahen sich an und ließen ihn in Ruhe.
»Danach war Byron in düsterer, tragischer Stimmung, habe ich recht?«, sagte
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