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Weißer Teufel

Weißer Teufel

Titel: Weißer Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Evans
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vor, dass du sofort loslegst.«

9

Unersättlich
    Andrew sah auf seine Uhr. Er war allein in seinem Zimmer, saß in dem blauen Sakko und der schwarzen Krawatte auf einem Stuhl und beugte sich übers Bett – das war seine bevorzugte Lernposition. Er hielt das Skript in den Händen und murmelte den Text vor sich hin. Er zog wieder seine Uhr zurate. Zwei Minuten waren verstrichen. Seine Zeitwahrnehmung hatte sich geändert. Im Frederick Williams war sie in schrecklichen Sprüngen vergangen, manchmal dehnte sie sich grausam dahin, und er maß sie nach Zigarettenlängen und den Gesprächen, die er in den Gemeinschaftsräumen aufschnappte oder selbst führte. Dann wieder raste sie dahin. Ein Examen. Eine fällige Hausarbeit. Als wäre Zeit eine Art verrückter Lachkabinettmaschine, die ein Schurke mit gezwirbeltem Schnurrbart bediente. Aber hier in Harrow machte seine Isolation – weniger Unterricht, weniger Freunde – die Zeit zu einem trägen Fluss, zu einem ganz anderen Element. Im FW war sie Feuer: hypnotisierend und alles verschlingend. In Harrow war sie Wasser: wogend, schwerfällig, bedächtig. Seit er John Harness’ Namen gesehen und mit dem Finger darüber gestrichen hatte, stellte er jede Sekunde voller Angst seine fünf Sinne in Frage. War das Flüstern, das er gehört hatte, real oder das neueste Anzeichen dafür, dass sich die Wirklichkeit verschob? Was war schlimmer  – im Verdacht zu stehen, dass man ein Gespenst gesehen hat, oder mit soliden Fakten zu bestätigen, dass es so war?
    Vielleicht zogen sich die Minuten auch nur so in die Länge, weil er Persephone am Nachmittag allein treffensollte. Das schlägt alles, was unser alter Herr getan hat, sagte er laut in seinem neuen Bühnen-Englisch.
    Wieder ein Blick auf die Uhr. Ach, zum Teufel. Er würde einfach losgehen. Es war zu früh, aber er konnte dieses Warten hier nicht länger ertragen.
    Er stand mit seinem Skript in der Hand auf der menschenleeren High Street und wartete unter dem graubedeckten Himmel. Hinter ihm war die Treppe, die zu den Räumen der Altphilologie führte, wo er und Persephone vor zwei Nächten Zuflucht gesucht hatten. Sie hatten ausgemacht, sich hier zu treffen, um zu proben. Stimmen wurden laut, dann tauchten massenweise Harrow-Hüte auf. Der Zwei-Uhr-Unterricht war zu Ende.
    Persephone, mit Büchern auf dem Arm, überquerte endlich die Straße und begrüßte ihn. Im FW wäre es ein Triumph, mit dem hübschesten Mädchen der Schule gesehen zu werden. Aber in Harrow weckte das Treffen mit dem einzigen Mädchen Neid und Missgunst. Eine Gruppe Kameraden aus dem Lot kam vorbei. Motoney, Mims, Hugo und Cumming  – vier der mürrischeren Vertreter der Abschlussklasse.
    » Miau, Andrew, schließt du Freundschaften?«
    »Seid ihr auf dem Weg zum Friseur, Mädels?«
    Hugo machte einen Satz nach vorn wie ein Possenreißer. »Gehen wir in einen Wellness-Tempel? Machen wir uns einen schönen Tag!«, lispelte er.
    Andrew schüttelte lächelnd den Kopf. Harrowianer waren Künstler mit einem Hang zu Beleidigungen Sie konnten eine Stunde auf diese Art improvisieren und würden es vermutlich auch tun – außerhalb seiner Hörweite.
    »Du bist heute ziemlich beliebt«, meinte Persephone.
    »Nicht ich – du«, gab Andrew zurück.
    »Verpisst euch«, schrie sie die Jungs an.
    »Oh, das ist gar nicht ladylike.«
    »Du bist hier die einzige Lady, Cumming«, rief sie zurück.
    Spöttisches Gelächter, nur Cumming errötete beschämt.
    Andrew und Persephone drehten sich um, um die Treppe hinunterzugehen, als Andrew einen so heftigen Schlag von hinten spürte, dass ihm die Seiten des Skripts aus der Hand flogen.
    »Mann, was soll das?« Andrew wirbelte aufgebracht herum.
    Vaz stand drohend vor ihm. Einige andere  – diesmal nicht St. John, sondern andere Rugby-Spieler mit breiteren Schultern und unheilvolleren Mienen – lauerten hinter ihm.
    »Es war ein Versehen«, sagte Vaz gleichgültig.
    Nicht bereit, klein beizugeben, entgegnete Andrew: »Ja, klar.«
    Der Blick aus Vaz’ schwarzen Augen richtete sich auf Persephone. »Ihr seid vielleicht ein Pärchen. Abschaum und das Flittchen.«
    »Was hast du gesagt?«, knurrte Andrew.
    »Du hast es gehört. Jetzt ist er ganz der Gentleman.« Vaz lachte leise und ging davon. »Lass dir von dem nichts anhängen, Persephone«, rief er noch, als er, gefolgt von seinen kichernden Mannschaftskameraden, die High Street hinunterstapfte. »Sonst endest du in einem Leichensack.«
    Ernüchtert betraten

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