Weißglut
einzulassen. »Er ist hinten im Sonnenraum, wo Sie ihn heute Morgen besucht haben.«
»Danke. Erwartet er uns?«
»Ich glaube ja.«
Trotz ihrer barschen Begrüßung bedankte sich Sayre bei ihr und winkte dann Beck, ihr zu folgen. Der Flur, den sie entlanggingen, war genauso mit Möbeln vollgepfercht wie alle anderen Räume, die sie durchquerten. Das Sonnenzimmer befand sich ganz hinten im Haus und blickte auf den Golfplatz.
Calvin McGraw saß im selben Stuhl wie bei ihrem vorangegangenen Besuch. Er saß mit Blick zur Tür. Sayre lächelte ihn an und begrüßte ihn. Nichts an seiner Miene verriet, dass er sie wiedererkannte. Das versetzte ihr einen nervösen Stich. »Ich habe Mr. Merchant mitgebracht. Passt es Ihnen jetzt?«
»Ich fürchte nicht, Sayre.« Chris, der in einem Rattanstuhl mit hoher, weit ausladender Lehne gesessen hatte und dadurch bis jetzt verborgen geblieben war, stand auf und drehte sich zu ihr um. »Beck hat mir erzählt, dass ihr rauskommen wolltet, und das hat mich daran erinnert, dass ich Calvin in letzter Zeit vernachlässigt habe. Ich bemühe mich, so oft wie möglich hier rauszufahren und nach ihm zu sehen. Leider ist heute keiner seiner guten Tage. Sein Verstand kommt und geht, musst du wissen. Ich habe gehört, das sei so bei Alzheimerkranken.«
Er trat zu dem alten Mann und legte fürsorglich die Hand auf seine Schulter. McGraw zuckte nicht, zeigte auch sonst keine Reaktion, sondern starrte weiterhin wie hypnotisiert ins Leere.
»An manchen Tagen kann er sich nicht mal an die Namen seiner Kinder erinnern. An anderen behauptet er, er hätte der achtundsiebzigjährigen Witwe von nebenan ein Kind gemacht. Letzte Woche haben sie ihn dabei erwischt, wie er nackt durch den See waten wollte. Er kann von Glück sagen, dass er nicht ertrunken ist. An anderen Tagen ist er wieder ganz normal und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Neulich hat er seine Pflegerin fünfmal hintereinander beim Damespiel geschlagen.«
Er drückte noch einmal die Schulter des alten Mannes. »Eine Tragödie, nicht wahr? Wenn man bedenkt, wie redegewandt er im Gericht war. Ein Verstand, scharf wie ein Rasiermesser.« Wehmütig schüttelte er den Kopf. »Jetzt spricht er manchmal tagelang kein Wort. An anderen Tagen quasselt er wie ein Wasserfall. Natürlich redet er dann viel verrücktes, unverständliches Zeug. Man kann nichts von dem, was er sagt, ernst nehmen.«
Ihr Atem kam in heißen Stoßen. Das Blut war ihr in den Kopf geschossen. Sie hatte keine Angst, in Ohnmacht zu fallen, aber sie hatte das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. Chris war ihr egal. Dass er sie hinterging, überraschte sie nicht. Aber dass Beck sie verraten hatte, schmerzte wie eine todbringende Wunde.
Er hatte ihr erst diese Falle gestellt und dann noch den Nerv gehabt, ihr etwas von Begierden und Tagträumen vorzusülzen. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt, weil er es geschafft hatte, dass sie ihm, und sei es auch nur ein wenig, vertraute, dass er sie hatte glauben lassen, er wäre nicht ganz so verachtenswert wie die Männer, denen er Treue geschworen hatte.
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: »Du Hurensohn«, was nur ein schwacher Begriff dafür war, was sie wirklich empfand.
Sie stürmte an ihm vorbei, aus dem geschmacklosen Pseudoheim hinaus, und rannte bis zu ihrem Auto. Als sie es erreicht hatte, rang sie nach Luft, teils wegen der Hitze, vor allem aber vor Zorn und Scham.
Erst als sie den Zündschlüssel ins Schloss rammte, sah sie, dass ihre Hand blutete. Sie hatte die Faust so fest geballt, dass der Schlüsselbart die Haut durchbohrt hatte.
Kapitel 24
Clark Daly ging um zehn nach zehn aus dem Haus. Das war eine halbe Stunde früher als nötig, nachdem das Werk nur fünf Minuten Fahrzeit von seinem Haus entfernt war und die Schicht um elf begann.
Aber die Atmosphäre daheim war so angespannt, dass er lieber gleich in die Gießerei ging. Luce saß ihm wegen Sayre im Nacken. Natürlich hatte sie schon vor ihrer Heirat gewusst, dass er und Sayre Hoyle früher ein Paar gewesen waren und es sich, obwohl sie damals noch in der High School waren, um eine durchaus ernste Beziehung gehandelt hatte. Keine Klatschbase, ob männlich oder weiblich, die auch nur halbwegs auf sich hielt, hätte Luce die interessanten Einzelheiten aus ihrer Romanze vorenthalten.
Luce hatte das Thema gleich bei einem ihrer ersten Dates angesprochen. Er hatte ihr ganz offen und ehrlich von Sayre erzählt. Es war immer noch besser, sie
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