Weit Gegangen: Roman (German Edition)
hatten selbst einen Krieg geführt, im Vergleich zu dem unser derzeitiger Konflikt hier sehr klein ist. Aber weil sie sich über die ganze Welt ausgebreitet hatten und nicht mehr in der Lage waren, ihre Herrschaft zu sichern, beschlossen sie, die Kontrolle über den Sudan den Sudanesen zu überlassen. Das war eine sehr folgenschwere Zeit. Viele glaubten, das Land würde geteilt, in Norden und Süden, weil die beiden Landesteile unter den Briten zwar vereint gewesen waren, aber kulturell so wenig gemeinsam hatten. Doch an diesem Punkt säten die Briten die Saat des Unheils für unser Land, die noch heute geerntet wird. Hier, seht euch das mal an.
Dut zog einen kleinen Packen Blätter aus seiner Tasche. Wir wussten bis dahin nicht, dass er außer der Liste, in die er die Namen der Jungen, die unter seiner Obhut waren, eintrug, noch andere Papiere besaß. Aber er hatte viele Papiere, und er blätterte die Seiten rasch durch, bis er zu einem zerknitterten gelben Blatt kam, das er auseinanderfaltete und mir zeigte. Die Druckschrift darauf sah ganz anders aus als alles, was ich je gesehen hatte. Ich konnte es ebenso wenig lesen, wie ich mir daraus hätte Flügel machen und davonfliegen können. Als ihm einfiel, dass ich nicht lesen konnte, entriss er es mir wieder.
– Ich habe lange gebraucht, um das zu übersetzen, und jetzt dürft ihr von meiner harten Arbeit profitieren. Hört zu:
Die anerkannte Regierungspolitik basiert auf der Tatsache, dass die Bevölkerung des Südsudan eindeutig afrikanisch und negroid ist und dass es der Bevölkerung gegenüber unsere offenkundige Pflicht ist, ihre wirtschaftliche Entwicklung nach afrikanischen und negroiden Maßgaben zu fördern und nicht nach nahöstlichen arabischen Maßgaben, wie sie im Nordsudan angemessen sind. Nur durch wirtschaftliche und erziehungspolitische Entwicklung können die Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Interessen in Zukunft selbst zu vertreten, ganz gleich, ob sie sich letztlich am Nordsudan orientieren oder an Ostafrika oder zum Teil an beiden Seiten.
William und ich verstanden so gut wie nichts von dem, was Dut da vorlas, aber er wirkte überaus zufrieden.
– Das haben die Briten geschrieben, als sie darüber nachdachten, wie sie ihren Rückzug aus dem Sudan handhaben sollten. Sie wussten, dass es falsch war, das Land als einen geeinten Sudan zu behandeln. Sie wussten, dass wir alles andere als einig waren und es auch nie sein würden. Sie waren in dieser Frage sehr unschlüssig. Sie nannten sie die Südsudanfrage.
Ich wusste nicht, was das bedeutete.
– Euer Schicksal, unser aller Schicksal, wurde vor fünfzig Jahren von einer kleinen Gruppe von Menschen aus England besiegelt. Sie hatten alle Möglichkeiten, eine Grenze zwischen dem Norden und dem Süden zu ziehen, aber sie ließen sich von den Arabern überzeugen, das nicht zu tun. Die Briten hatten die Gelegenheit, die Menschen im Südsudan zu fragen, ob sie lieber vom Norden getrennt oder mit dem Norden vereint werden wollten. Es ist ja wohl kaum denkbar, dass die Häuptlinge des Südens sich mit dem Norden hätten vereinen lassen wollen, oder?
Wir nickten, fragten uns aber, ob das wirklich stimmte. Ich dachte an die Markttage in Marial Bai, an Sadiq und die Araber im Laden meines Vater, die Harmonie, die zwischen Händlern bestand.
– Aber sie wollten es, sprach Dut weiter. – Sie wurden von den Arabern ausgetrickst, übertölpelt. Häuptlinge wurden bestochen, mit großen Versprechungen. Am Ende waren sie überzeugt, dass es Vorteile hätte, als eine Nation zu leben. Es war töricht. Wie dem auch sei, all das wird sich jetzt ändern, sagte Dut und stand auf. – In Äthiopien wird es Schulen geben, die besten Schulen, die wir je hatten. Die besten Lehrer aus dem Sudan und Äthiopien werden dort sein und euch unterrichten. Ihr werdet auf eine neue Ära vorbereitet, in der wir uns nie wieder von Khartoum überlisten lassen. Wenn dieser Kampf vorüber ist, wird es einen unabhängigen Staat Südsudan geben, und ihr Jungen werdet ihn irgendwann erben. Wie hört sich das an?
Ich sagte Dut, dass es sich gut anhörte. William K hingegen war eingeschlafen, und bald tat ich es ihm nach. Dut ging, und ich wollte einfach nur ausruhen und bei William K sein. Sein Auftauchen, seine Wiederauferstehung, kam zu einem Zeitpunkt, als ich nicht wusste, ob ich ohne ihn noch weiter durchgehalten hätte. Hätte ich mich in ein Loch verkrochen wie Monynhial? Ich weiß es nicht. Aber ohne William K
Weitere Kostenlose Bücher