Weit Gegangen: Roman (German Edition)
hätte ich vergessen, dass ich nicht während dieses Marsches geboren worden war. Dass ich schon vorher gelebt hatte. Ohne William K hätte ich glauben können, in diesem hohen Gras, durchzogen von den Pfaden der Jungen vor mir, zur Welt gekommen zu sein, nie eine Familie gehabt zu haben, nie ein Zuhause, nie unter einem Dach geschlafen, mich nie mit warmer Nahrung satt gegessen zu haben, nie mit einem Gefühl der Sicherheit eingeschlafen zu sein, mit dem Wissen, was passieren konnte und was nicht, wenn die Sonne wieder aufging.
Ich schloss die Augen und fühlte mich glücklich, dort, am Fluss, an jenem Tag, wieder vereint mit William K, während die Wolken dahinzogen, in vollkommener Regelmäßigkeit für Kühle sorgten und barmherzigen Schatten auf meine Augenlider warfen, während ich schlief.
Aber am Abend endete dieses Leben mit dem Nahen von Donner.
– Steht auf!
Dut schrie uns an. Der Krieg komme, sagte er. Er erklärte uns nicht, wer kämpfte oder wo, aber wir konnten in der Ferne Schüsse hören, das Grollen von Granatfeuer. Und so blieben wir nicht länger in dem Dorf, das ganz sicher nicht mehr lange existieren würde, nachdem der Geschützlärm ertönt war. Wir brachen auf, als die Sonne rot wurde und unterging, und wir zogen in die Wüste. Die Dorfbewohner hatten uns erzählt, dass es nicht mehr weit sei bis Äthiopien, dass wir nur noch die Wüste durchqueren müssten, dass wir in einer Woche die Grenze des Sudan erreichen würden.
Zuerst ließen wir alles zurück, was wir besaßen. Dut meinte, wir seien sicherer vor Banditen, wenn wir nichts dabeihätten, das jemand haben wollte. Wir aßen, was wir gefunden oder verwahrt hatten, wir ließen alle Habseligkeiten zurück, die wir nicht am Leib tragen konnten. Ich aß Samenkörner aus einem kleinen Beutel, den ich ans Handgelenk gebunden hatte, und viele Jungen zogen sogar ihre Hemden aus. Wir verfluchten Dut wegen seiner Anweisung, hatten aber keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen. Wir vertrauten Dut immer. Damals waren wir Jungen, und er war Gott.
Wir gingen die ganze Nacht, um von den Kämpfen wegzukommen, und am frühen Morgen rasteten wir ein paar Stunden, ehe wir erneut aufbrachen.
In jenen ersten Tagen gingen wir mit einiger Zuversicht und recht schnell. Die Jungen glaubten, in ein paar Tagen hätten wir Äthiopien erreicht, und die Nähe unseres neuen Lebens weckte den Träumer in William K, der die Luft zwischen uns mit dem wunderbar zarten Gewebe seiner Lügen füllte.
– Ich habe gehört, wie Dut und Kur sich unterhalten haben. Sie sagen, wir sind schon bald in Äthiopien, nur noch ein paar Tage. Aber mit dem Essen wird es da schwierig werden. Sie sagen, es gibt da so viel zu essen, dass wir immer einen halben Tag brauchen werden, um alles aufzuessen. Sonst würde es schlecht.
– Du lügst, William, sagte ich. – Psst.
– Ich lüge nicht. Ich hab’s eben gehört.
William K war mindestens eine halbe Meile von Dut und Kur entfernt. William K hatte niemanden irgendetwas dieser Art sagen hören. Er sprach weiter.
– Dut hat gesagt, jeder von uns muss sich zwischen drei Häusern entscheiden. Die zeigen uns drei Häuser, und wir müssen uns eins aussuchen. Der Fußboden wird aus Gummi sein, wie Schuhe, und drinnen ist es immer schön kühl und sauber. Wir müssen uns auch Decken aussuchen und verschiedene Farben für Hemden und Shorts. Die meisten Probleme, die wir in Äthiopien kriegen werden, hängen mit den vielen Entscheidungen zusammen, die wir andauernd treffen müssen.
Ich versuchte, seine Stimme auszublenden, aber seine Lügen waren herrlich, und insgeheim hörte ich gebannt zu.
– Außerdem sind unsere Familien dort. Dut hat gesagt, in Bahr al-Ghazal sind Flugzeuge gelandet, als wir schon weg waren, und die Flugzeuge haben alle nach Äthiopien gebracht. Deshalb sind die anderen alle schon da, wenn wir ankommen. Wahrscheinlich machen die sich ganz schön Sorgen um uns.
Seine Lügen waren so göttlich, dass ich fast geheult hätte.
Aber es gab kein Wasser und auch nichts zu essen. Irgendwer, ich weiß nicht wer, hatte Dut gesagt, wir würden in der Wüste etwas zu essen finden und mit einem begrenzten Wasservorrat auskommen, aber beides war falsch. Innerhalb weniger Tage wurde unser Gang schwerfällig, und die Jungen wurden allmählich verrückt.
Am Morgen des vierten Tages wurde ich wach, weil ein Junge namens Jok Deng auf mich drauf pinkelte. Er war einer der Ersten, die in der Wüste den Verstand verloren. Die
Weitere Kostenlose Bücher