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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Hitze war einfach zu brutal, und wir hatten seit drei Tagen nichts gegessen. Als Jok Deng mich also auf diese Art weckte, zog ich an seinem Bein, bis er umfiel, während die Fontäne aus seinem Penis noch nicht versiegt war. Ich ging auf die andere Seite des Schlafkreises und legte mich wieder hin, eingehüllt in den Geruch von Jok Dengs Urin. Er pinkelte jeden Tag auf jemanden. Dann war da noch Dau Kenyang, der nicht mehr auf seinen Namen reagierte und dessen Augen so tief in den Schädel sanken, dass sie ihr Licht verloren. Er bewegte den Mund, sagte aber nichts. Wir alle gewöhnten uns an das leise Ploppen seiner Lippen, die sich öffneten und schlossen, ohne dass ein Wort herauskam.
    William K war der Nächste. Sein Wahnsinn begann mit der Unfähigkeit zu schlafen. Er blieb die ganze Nacht auf, in der Mitte des Schlafkreises, und trat jeden um sich herum. Wir fanden das störend, aber an und für sich war das noch kein Hinweis darauf, dass William nicht mehr ganz bei Sinnen war. Doch dann begann er, mit Sand zu werfen. Er hatte stets eine Handvoll Sand bei sich, um sie jedem, der ihn ansprach, ins Gesicht zu schleudern, jeder, die ihn ansprach, war für ihn William A, sein Erzfeind in Marial Bai, zumindest nannte er jeden so.
    Ich war der Erste, der William Ks Sandgabe entgegennahm. Ich fragte ihn, ob ich mir sein Messer borgen könne, und er bewarf mich mit Sand. Ich hatte den ganzen Mund voll, und meine Augen brannten.
    – Lass dir dein Sandessen schmecken, William A, sagte er.
    Ich war zu müde, um mich aufzuregen, um irgendwie zu reagieren. Ich hatte keine Kraft mehr in den Muskeln, immer wieder Krämpfe. Mir war unentwegt schwindelig. Wir versuchten alle, möglichst gerade zu gehen, aber unser kollektives Gleichgewicht war so schlecht, dass wir aussahen wie eine Reihe taumelnder und schwankender Betrunkener. Mein Herz schien schneller zu schlagen, unregelmäßig, flatternd und fröstelnd. Und den meisten Jungen ging es noch viel schlechter als mir.
    Wir aßen nur, was wir finden konnten. Die begehrteste Kostbarkeit war eine Frucht namens Abuk. Es war eine Wurzel, die herausgezogen werden konnte, wenn man nur ein einzelnes Blatt aus der Erde ragen sah. Manche Jungen waren Experten darin, sie aufzuspüren, aber ich sah nie eine. Es kam oft vor, dass ein Junge unvermittelt irgendwohin lief und anfing zu graben, während ich wieder mal nichts gesehen hatte. Als wir genug beisammenhatten, probierte ich die Abuk. Sie war bitter und ansonsten wenig schmackhaft. Aber sie enthielt Wasser und war deshalb hoch geschätzt.
    Jeden Tag schickte Dut uns zwischen die Bäume, falls es Bäume gab, um alles zu sammeln, was wir finden konnten. Aber geht nicht zu weit, warnte er uns.
    – Bleibt in der Nähe und dicht beieinander, sagte Dut. In der Gegend lebten Stämme, so sagte er, die Jungen wie uns rauben würden. Sie würden sie töten oder verschleppen und sie zwingen, ihr Vieh zu hüten.
    Wenn wir Glück hatten, aßen wir einen Löffel voll Nahrung am Tag und tranken so viel Wasser, wie einmal in unsere hohlen Hände passte.
    Das Sterben begann am fünften Tag.
    – Sieh mal, sagte William K an diesem Tag.
    Sein Blick folgte den ausgestreckten Fingern der Jungen in der Reihe vor uns. Alle blickten auf den geschrumpften Körper eines Jungen unseres Alters, der keine sechs Meter vom Pfad entfernt lag. Dieser tote Junge gehörte einer anderen Gruppe an, die uns ein paar Tage voraus war. Der Junge war nackt bis auf ein Paar gestreifte Shorts und lehnte an einem dünnen Baum, dessen Zweige sich über ihn neigten, als wollten sie ihn vor der Sonne schützen.
    Kur stellte sich zwischen unsere Kolonne und den toten Jungen und sorgte dafür, dass wir weitergingen und uns die Leiche nicht näher ansahen. Er hatte Angst vor Krankheiten, die der tote Junge gehabt haben könnte, und außerdem zählte in den schwierigen Tagen damals jeder Augenblick. Wenn wir wach seien, müssten wir gehen, sagte er, denn je länger wir gingen, desto schneller würden wir irgendwo ankommen, wo wir Essen oder Wasser finden konnten.
    Aber nur wenige Stunden nachdem wir an der Leiche des Jungen vorbeigekommen waren, blieb ein Junge aus unserer eigenen Reihe stehen. Er setzte sich einfach auf den Pfad; wir sahen die Jungen vor uns um ihn herumgehen, über ihn hinwegsteigen. William K und ich machten das auch, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten. Schließlich hörte Dut von dem Jungen, der aufgehört hatte zu gehen, und er ging zurück, um

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