Weit Gegangen: Roman (German Edition)
mir sah ich lauter Jungen, einige von ihnen planschten im Wasser. Hinter mir war nichts außer Dunkelheit und ein Pfad.
– Achak!
Die Stimme klang vertraut. Ich blickte auf. In einem Baum war ein Schatten. Er sah aus wie der eines Leoparden, eine längliche sehnige Silhouette.
– Wer ist da?, fragte ich.
Die Gestalt sprang aus dem Baum und landete neben mir im Sand. Ich fuhr zusammen und wollte schon weglaufen, aber es war ein Junge.
– Du bist es selbst, Achak!
– Ganz sicher nicht!, sagte ich und stand auf.
Er war es, nach so vielen Wochen, es war William K.
Wir umarmten uns und sagten nichts. Meine Kehle war wie zugeschnürt, aber ich konnte nicht weinen. Ich wusste nicht mehr, wie man weint. Aber ich war so dankbar. Ich hatte das Gefühl, dass Gott mir William K zum Geschenk machte, nachdem er mir Deng weggenommen hatte. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit die Murahilin nach Marial Bai gekommen waren, und ich konnte es fast nicht glauben, dass ich ihn hier wiederfinden sollte, am Ufer des Nil. Wir lächelten uns an, aber wir waren zu aufgeregt, um uns zu setzen. Wir rannten zum Fluss, und dann gingen wir am Ufer entlang, weg von den anderen Jungen.
– Was ist mit Moses?, fragte William K. – Ist er auch hier?
Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass William K nichts von Moses’ Schicksal wusste. Ich sagte ihm, dass Moses tot war, dass ein Reiter ihn getötet hatte. William K setzte sich rasch in den Sand. Ich setzte mich zu ihm.
– Wusstest du das nicht?, fragte ich.
– Nein. Ich habe ihn an dem Tag nicht gesehen. Haben sie ihn erschossen?
– Ich weiß nicht. Sie sind auf ihn los. Ich hab weggesehen.
Wir blieben eine Weile sitzen und starrten auf die glatten Steine am Ufer. William K hob ein paar davon auf und warf sie in das braune Wasser.
– Deine Eltern?, fragte er.
– Ich weiß nicht. Und deine?
– Sie haben gesagt, wir würden uns in der Regenzeit zu Hause wiedersehen. Ich glaube, sie warten darauf, zurückzukommen. Also muss ich wieder nach Hause, wenn der Regen kommt.
Das hörte sich sehr nach Wunschdenken an, fand ich, aber ich sagte nichts dazu. Wir saßen eine Zeit lang schweigend da, und ich hatte das Gefühl, dass der Weg nach Äthiopien jetzt nicht mehr so schwer sein konnte. Mit meinem guten Freund William K an meiner Seite würde es erträglich sein. Ich bin sicher, er empfand genauso, denn er schielte mehr als einmal aus den Augenwinkeln zu mir rüber, als wollte er sich vergewissern, dass ich real war. Dass das alles real war.
Wir brauchten erstaunlich lange, bis uns einfiel, einander zu fragen, wie wir mit unserer jeweiligen Gruppe bis hierher zum Fluss gekommen waren. Ich erzählte ihm meine Geschichte, und dann erzählte er mir seine. Genau wie ich war er damals am ersten Tag gerannt, die ganze Nacht hindurch und den ganzen folgenden Tag. Er hatte das Glück, auf einen Bus zu stoßen, der Leute nach Ad-Da’ein brachte, wo er Verwandte hatte. Er wusste, dass Ad-Da’ein im Norden lag, aber alle Dinka im Bus vertrauten darauf, dass sie dort sicher sein würden, weil Ad-Da’ein eine große Stadt war, wo schon lange eine bunte Mischung aus Dinka und Arabern, Christen und Muslimen lebte. Wie die Gruppe von Ältesten, mit der ich zu Beginn meiner Flucht unterwegs gewesen war, so glaubten auch sie, dass sie in einer von der Regierung kontrollierten Stadt gut aufgehoben wären.
– Und eine Weile war es dort sicher, sagte William K. – Mein Onkel und meine Tanten lebten dort, er arbeitete als Maurer für die Rezeigat. Es war eine anständige Arbeit, und er konnte uns alle ernähren. Wir lebten neben vielen Hundert Dinka, und wir konnten machen, was wir wollten. Es gab ungefähr siebzehntausend Dinka dort, deshalb fühlten wir uns sicher.
– Die Rezeigat, arabische Nomaden, hatten die Macht in der Stadt, aber es gab auch noch Angehörige der Fur, der Zaghawa, Jur, Berti und anderer Volksgruppen. Es war eine lebendige Stadt, friedlich. Zumindest behauptete mein Onkel das. Kurz nach meiner Ankunft änderten sich die Dinge. Schlechte Stimmung machte sich breit. Immer mehr Milizen kamen in die Stadt, und sie brachten den Groll gegen die Dinka mit. Die Muslime in der Stadt begannen, sich gegenüber Nichtmuslimen anders zu verhalten. Es gab eine christliche Kirche in der Stadt, die vor langer Zeit mit Unterstützung eines Scheichs der Rezeigat erbaut worden war. Diese Kirche wurde jetzt für die Muslime zum Problem. Wegen der SPLA waren die Menschen wütend auf
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