Weit Gegangen: Roman (German Edition)
ihn zu holen. Er trug ihn den ganzen restlichen Nachmittag, später hörten wir, dass der Junge die meiste Zeit davon schon tot gewesen war. Er starb in Duts Armen, und Dut suchte nur nach einem geeigneten Platz, um ihn zur letzten Ruhe zu betten.
Bis zum nächsten Nachmittag hatten wir am Wegesrand acht weitere tote Jungen gesehen, die den Gruppen vor uns angehört hatten, und es kamen noch drei von uns dazu. An diesem Tag und an den Tagen danach hörte jeder Junge, der bald sterben würde, zuerst auf zu sprechen. Sein Hals wurde noch trockener, und Sprechen kostete ihn zu viel Energie. Dann sanken seine Augen tiefer in die Höhlen, wurden von immer dunkleren Schatten umgeben. Er reagierte nicht mehr auf seinen Namen. Sein Gang verlangsamte sich, seine Füße schlurften nur noch über den Boden, und er zählte zu denjenigen, die sich bei Pausen länger ausruhten. Schließlich suchte sich der sterbende Junge einen Baum, setzte sich, gegen den Baum gelehnt, hin und schlief ein. Als sein Kopf den Baum berührte, fiel das Leben aus ihm heraus, und sein Fleisch kehrte zur Erde zurück.
Der Tod holte sich jeden Tag Jungen, und das auf gewohnte Art: rasch und entschieden, ohne Vorwarnung oder viel Tamtam. Diese Jungen waren für mich Gesichter, Jungen, neben denen ich beim Essen gesessen oder die ich gesehen hatte, als sie im Fluss Fische fingen. Ich fragte mich allmählich, ob sie alle gleich waren, ob es einen Grund dafür gab, warum der Tod den einen holte und einen anderen nicht. Ich rechnete jeden Augenblick damit. Aber es gab gewisse Dinge, die die toten Jungen möglicherweise getan hatten, um ihr Ableben zu beschleunigen. Vielleicht hatten sie die falschen Blätter gegessen. Vielleicht waren sie faul. Vielleicht waren sie nicht so stark wie ich, nicht so schnell. Immerhin war denkbar, dass das alles nicht wahllos war, dass Gott die Schwachen aus der Gruppe holte. Vielleicht sollten es nur die Stärksten bis nach Äthiopien schaffen. Äthiopien reichte nur für die Besten unter uns. Das war William Ks Theorie. Er war wieder bei Verstand und sprach jetzt mehr denn je.
– Gott entscheidet, wer es bis nach Äthiopien schafft, sagte er. – Nur die Klügsten und Stärksten von uns können es schaffen. Da ist nämlich nur Platz für die Hälfte von uns. Genauer gesagt, nur für einhundert Jungen. Es werden also noch mehr sterben, Achak.
Wir konnten die Toten nicht betrauern. Dafür war keine Zeit. Wir waren seit zehn Tagen in der Wüste, und wenn wir sie nicht bald hinter uns ließen, würden wir sie nie verlassen. Gleichzeitig kam der Krieg immer häufiger an uns heran. Tagsüber sahen wir Hubschrauber in der Ferne, und Dut tat sein Bestes, um uns gut zu verstecken. Danach marschierten wir nachts. Als wir uns während einer dieser nächtlichen Märsche ein paar Stunden ausruhten, dachten wir, ein Panzer sei gekommen, um uns alle zu töten.
Ich schlief, als ich das Grollen in der Erde spürte. Ich fuhr hoch und sah, dass auch die anderen Jungen aufgewacht waren. Aus der Dunkelheit heraus zerrissen zwei Lichter die Nacht.
– Lauft weg!
Dut war nirgends zu finden, aber Kur befahl uns wegzulaufen. Ich vertraute seinen Befehlen, daher suchte ich William K, der sich wieder hingelegt und in Tiefschlaf gefallen war. Sobald er stand und wach war, rannten wir, stolperten durch die Nacht, hörten Motorenlärm und sahen Scheinwerfer in der Ferne. Zuerst liefen wir auf die Lichter zu, dann von ihnen weg. Dreihundert Jungen rannten in alle Richtungen. William K und ich sprangen über Jungen, die gestrauchelt waren, und über Jungen, die stehen geblieben waren, um sich im Gebüsch zu verstecken.
– Sollen wir anhalten?, flüsterte ich, während wir rannten.
– Nein, nein. Renn weiter. Renn immer weiter.
Wir liefen und liefen, wild entschlossen, so weit wie möglich von den Lichtern wegzukommen. Wir rannten Seite an Seite, und ich hatte das Gefühl, dass wir in die richtige Richtung liefen. Die Geräusche der anderen Jungen und das Grollen verklangen allmählich, und ich sah nach rechts, wo William K gewesen war, und William K war nicht mehr neben mir.
Ich blieb stehen und rief im Flüsterton nach William K. Im Dunkeln hörte ich das Jammern von Jungen. Erst am Morgen würde ich erfahren, was in dieser Nacht geschehen war und wer da jammerte und warum.
– Renn, renn! Sie kommen!
Ein Junge flog an mir vorbei, und ich folgte ihm. William K hatte beschlossen, sich zu verstecken, sagte ich mir. William K war in Sicherheit.
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