Weit Gegangen: Roman (German Edition)
jenem Nachmittag, zum Beispiel, dass seine Eltern es bestimmt schon bis nach Äthiopien geschafft hatten, weil er nämlich unterwegs in Dörfern nachgefragt hatte, ob schon Leute durchgekommen seien, die ausgesehen hätten wie seine Eltern, und immer sei die Antwort ja gewesen. Auch wenn er seine Kraft vielleicht erst in den letzten Tagen zurückgewonnen hatte, grenzte es dennoch an ein Wunder, einen Jungen überhaupt mit solcher Begeisterung reden zu hören. Wir anderen waren seit Wochen kaum noch in der Lage gewesen zu sprechen.
– Ist das ein neuer Junge, Achak?
Dut hatte uns am Fluss entdeckt.
– Das ist William K. Er ist aus meinem Dorf.
– Marial Bai? Nein.
– Doch, Onkel, sagte William K. – Mein Vater war Stellvertreter des Häuptlings.
Dut schien sofort erkannt zu haben, dass William K ein Aufschneider war, wenn auch ein harmloser. Er nickte und sagte nichts. Er setzte sich zu uns, beobachtete, wie Menschen den Nil überquerten. Er fragte William K, wie es denn kam, dass er, der Sohn eines stellvertretenden Häuptlings von Marial Bai, hier am Fluss zu uns gestoßen war, und William K erzählte ihm eine verkürzte Version seiner Geschichte. Dut seinerseits erzählte daraufhin eine Geschichte, die noch seltsamer war als die, die er über die Baggara und ihre neuen Gewehre erzählt hatte.
– Es wundert mich nicht, dass ihr in Ad-Da’ein Probleme hattet, William K. Die Geschichte der Völker des Südens und des Nordens ist keine glückliche. Die Araber waren schon immer besser bewaffnet als wir Dinka. Und sie waren auch schlauer. Aber in Äthiopien werden wir dieses Ungleichgewicht korrigieren. Habt ihr schon einmal vom Volk der Engländer gehört, Jungs?
Wir schüttelten den Kopf. Äthiopien war das einzige andere Land, von dem wir wussten.
– Das ist ein sehr fernes Volk. Die Menschen sehen ganz anders aus als wir. Aber sie sind sehr mächtig und haben mehr und bessere Waffen als alle Baggara zusammen. Begreift ihr das? Sie sind das mächtigste Volk, das ihr euch vorstellen könnt.
Ich versuchte, es mir vorzustellen, dachte an die Murahilin, aber größer.
– Das englische Volk fing nach 1800 an, sich im Südsudan zu engagieren, dem Land, durch das wir jetzt ziehen. Also vor langer Zeit. Sie waren es, die dazu beitrugen, das Christentum unter den Dinka zu verbreiten. Irgendwann werde ich euch von einem Mann namens General Gordon erzählen, der versuchte, in unserem Land die Sklaverei abzuschaffen. Aber nicht heute. Habt ihr bis jetzt alles verstanden?
Hatten wir.
– Ein anderer Aspekt der Geschichte dieses Landes hier ist das Land Ägypten. Ägypten ist ein weiteres mächtiges Land, aber sein Volk ähnelt dem Volk des Nordsudan. Es sind Araber. Sowohl die Ägypter als auch die Briten hatten Interessen im Sudan …
Ich fiel ihm ins Wort. – Was heißt das, wenn du sagst, sie hatten Interessen?
– Sie wollten gewisse Dinge hier. Sie wollten das Land. Sie wollten den Nil, den Fluss, den wir gerade überquert haben. Die Briten kontrollierten viele Länder in Afrika. Es ist kompliziert, aber sie wollten Einfluss auf einen Großteil der Welt haben. Deshalb trafen die Briten und die Ägypter eine Vereinbarung. Sie einigten sich darauf, dass die Ägypter den Norden des Landes verwalten sollten, wo die Araber lebten und noch immer leben, während die Briten den Süden verwalten würden, das Land, das wir kennen, wo Dinka und andere Volksgruppen wie wir leben. Das war gut für die Menschen im Süden, weil die Briten Feinde der Sklavenjäger waren. Sie sagten sogar, sie würden den Sklavenhandel abschaffen, der damals sehr verbreitet war. Sehr viel mehr Menschen als heute wurden geraubt und in die ganze Welt verschickt. Die Briten herrschten mit sehr leichter Hand über den Südsudan. Sie brachten Schulen in den Sudan, wo den Kindern das Christentum nahegebracht wurde und die englische Sprache.
– Nennt man sie deshalb Engländer?, fragte William K.
– Ähm … ja genau, Willliam. In einer Hinsicht waren die Engländer gut für dieses Land: Sie hielten die Verbreitung des Islams auf. Sie schützten uns vor den Arabern. Doch 1953, lange bevor ich geboren wurde, ungefähr zu der Zeit, als dein Vater geboren wurde, Achak, unterschrieben die Briten ein Abkommen mit den Ägyptern, dass sie den Sudan verlassen würden und er sich selbst regieren sollte. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg und …
– Was?, fragte ich.
– Oje, Achak, das kann ich unmöglich alles erklären. Aber die Briten
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