Weit Gegangen: Roman (German Edition)
bemühte, von den rund vierzigtausend Flüchtlingen erfahren, die gleich hinter der äthiopischen Grenze lebten, die Hälfte davon auf sich allein gestellte Kinder und Jugendliche.
Ich wurde von aufgeregten Stimmen vor unserer Unterkunft geweckt.
– Hast du ihn gesehen?
– Nein. Ein Weißer, sagst du? Ist sein Haar weiß?
– Nein, seine Haut, alles an ihm. Er ist weiß wie Kreide.
Ich setzte mich auf und kroch nach draußen, noch immer nicht wach genug, um richtig zu erfassen, worüber die drei von der Elf da sprachen. Als ich mich aufrichtete und pinkelte, sah ich überall im Lager Gruppen von jeweils zehn oder mehr Jungen aufgeregt miteinander sprechen. Irgendetwas war im Gang, und es hatte irgendwie mit dem Geplapper meiner Mitbewohner zu tun, das ich aufgeschnappt hatte. Als ich gerade versuchte, mir einen Reim auf ihr Gespräch zu machen, blickte ich auf und sah, wie Hunderte Jungen gleichzeitig den Kopf umwandten. Ich folgte ihrem Blick und sah etwas, das aussah, wie ein von innen nach außen gedrehter Mann. Als sei er nicht vorhanden. Als sei er ausgelöscht worden. Ein unwillkürliches Frösteln durchlief meinen Körper, die gleiche Reaktion, wie beim Anblick einer Brandwunde, fehlender Gliedmaßen – einer Perversion oder Zerstörung eines natürlichen Zustands.
Ich wollte auf den ausgelöschten Mann zugehen, doch dann merkte ich, dass ich meine Hose nach dem Urinieren nicht wieder hochgezogen hatte. Ich richtete meine Kleidung und folgte der Schar von Jungen, die auf den ausgelöschten Mann zuströmte. Ich hielt nach Moses Ausschau, wollte ihn fragen, ob das so eine Sorte Mensch war, wie er sie gesehen hatte, aber Moses war nirgends zu finden. Der weiße Mann war ein paar Hundert Meter weit weg, und das Raunen der Jungen wurde leiser, als wir näherkamen. Ein älterer Junge baute sich vor uns auf.
– Halt! Bedrängt den Khawaja nicht. Er läuft weg, wenn ihr ihm zu nahe kommt. Wenn hundert Jungen auf ihn zugerannt kommen, verscheucht ihr ihn. Jetzt verschwindet.
Wir gingen zu unseren Unterkünften zurück, wandten uns unseren Tätigkeiten zu, aber im Verlauf des Tages kamen immer wieder neue Theorien über den Mann auf. Der ersten Theorie nach war er von der sudanesischen Regierung hergeschickt worden, um uns alle zu töten. Er würde alle Jungen zählen, und dann würde er berechnen, wie viele Waffen er brauchte, um uns zu vernichten. Wenn er damit fertig war, würde er nachts kommen und uns töten. Die Theorie wurde rasch verworfen, als wir sahen, dass die Ältesten keine Angst vor ihm hatten. Im Gegenteil, sie sprachen mit ihm und schüttelten ihm die Hand. Prompt schlug das Pendel um, und es hieß, er sei ein Gott, der gekommen war, um uns alle zu retten, der uns zurück in den Südsudan führen würde, um die Murahilin zu besiegen. Dieser Gedanke verbreite sich im Laufe des Tages immer mehr und wurde erst angezweifelt, als wir die Aktivitäten auflisteten, denen sich der Gott widmete. Er verbrachte die meiste Zeit mit einigen Ältesten und baute einen Lagerschuppen für Lebensmittel, und diese Arbeit war für einen Gott, oder auch nur eine kleinere Gottheit, einfach zu banal. Danach äußerten einige ältere Jungen nuanciertere Ansichten.
– Er arbeitet für die Regierung, aber heimlich. Deshalb verbirgt er sich in der weißen Haut.
– Er ist von innen nach außen gestülpt, und er ist in den Sudan gekommen, um herauszufinden, wie er wieder richtig rum werden kann.
Schließlich hatte ich genug von diesen Theorien und ging Dut fragen.
– Du hast noch nie einen Weißen gesehen?, lachte er.
Das faszinierte Dut. Ich wusste nicht, wo ich je einen Weißen hätte sehen sollen. Ich fand das nicht lustig. Sein Gesicht wurde weicher, und er seufzte.
– Die Weißen kommen aus vielerlei Gründen in den Sudan, unter anderem weil sie uns das Königreich Gottes lehren wollen … Ich weiß, es gab in Marial Bai keine Weißen, aber waren denn auch in eurer Kirche in Aweil keine?
Ich schüttelte den Kopf.
– Also gut, okay. Sie kommen auch wegen des Öls, und das hat Menschen wie uns viele Probleme gebracht. Aber die Geschichte muss ich ein anderes Mal erzählen. Jetzt wollen wir über einen anderen Grund reden, aus dem sie kommen, nämlich um Menschen zu helfen, wenn sie angegriffen und unterdrückt werden. Manchmal sind die Weißen, die herkommen, um sich die Situation vor Ort anzusehen, Vertreter der Armeen der Weißen, und das sind die mächtigsten Armeen der Welt.
Ich stellte mir die
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