Weit Gegangen: Roman (German Edition)
und ihre Geräusche näher drangen, und grübelte, ob ich Peter oder Paul fragen sollte, ob er etwas über Marial Bai und meine Familie wusste, über ihr Schicksal. Falls der Mann ein direkter Nachfahre von Adam und Eva war und unter dem Feigenbaum mit Gott sprach, dann musste er doch auch von meinen Verwandten wissen – ob sie noch lebten oder wo sie jetzt waren. Vielleicht wäre er sogar fähig, mich nach Marial Bai zurückzuversetzen. Falls meine Eltern getötet worden waren, könnte er sie wieder lebendig machen und das Dorf wieder so herrichten, wie es gewesen war, ehe die dunkle Murahilin-Wolke über uns kam. Und wenn er das alles konnte, und das schien ziemlich wahrscheinlich, konnte er dann nicht auch den Krieg im Südsudan beenden? Vielleicht konnte er das nicht selbst, aber wenn er seinen Gott und die anderen Götter anrief, warum sollten die sich dann nicht einschalten und uns allen, allen Jungs in Pinyudo, erlauben, nach Hause zu gehen? Ich beschloss, mich gegebenenfalls auch auf einen Kompromiss einzulassen und den Mann zu bitten, wenigstens Marial Bai zu verschonen. Falls es notwendig war, dass der Krieg weiterging, und wie ich wusste, ließen Götter die Menschen häufig einfach kämpfen, dann konnte Marial Bai vielleicht davon ausgenommen werden. Jede Nacht lag ich zu lange wach, während die elf um mich herum einschliefen und ich überlegte, wie ich den weißen Boten ansprechen sollte und wie ich ihn um diese Gefälligkeiten bitten konnte, ohne lästig zu wirken. Doch eines Tages war Peter oder Paul fort und wurde nie mehr gesehen. Niemand hatte dafür eine Erklärung.
Es dauerte jedoch nicht lange, da kamen mehr weiße Menschen und Helfer aus ganz Afrika nach Pinyudo. Aus der Ferne konnte ich ihre Delegationen sehen, wie sie mit raschen Schritten durchs Camp gingen, stets unter der umsichtigen Führung eines der sudanesischen Ältesten. Manchmal ließ man uns für die Besucher singen oder große Begrüßungstransparente malen. Aber näher kamen wir ihnen nicht. Die Besucher gingen nie weit ins Lager hinein, und normalerweise reisten sie noch am selben Tag wieder ab.
Bald darauf kamen dreimal täglich Lastwagen mit Lebensmitteln an, und von da an bekamen wir mindestens zwölf Mahlzeiten die Woche – zuvor waren es nur sieben gewesen. Wir nahmen zu, und überall im Camp wurden Projekte ins Leben gerufen: Neue Brunnen wurden gegraben, medizinische Einrichtungen eröffnet, mehr Bücher und Stifte trafen ein. Mit der relativen Zufriedenheit und den vollen Mägen kamen auch die Gedanken an Heimkehr. Moses war einer der ersten Jungen, der vorschlug, in den Sudan zurückzukehren.
– Wir haben hier zu essen, und die Lage ist stabil, sagte er. – Das bedeutet, dass es zu Hause sicher sein muss. Wir sollten jetzt nach Hause gehen. Warum sollen wir bleiben? Es ist ein Jahr her, seit wir fortgegangen sind.
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Die Idee schien verrückt, aber andererseits begann auch ich, genau wie Ajulo, die nicht einsah, wieso wir hierblieben, zu überlegen, warum wir nicht woandershin zogen oder nach Hause.
– Aber wir hätten keine Erwachsenen dabei, sagte ich. – Wir würden bestimmt getötet.
– Wir kennen den Weg jetzt, sagte Moses. – Wir suchen zwanzig von uns zusammen. Das genügt. Vielleicht ein Gewehr. Ein paar Messer, Speere. Packen etwas zu essen in unsere Beutel. Es wird anders sein als vorher, als der Weg hierher. Wir nehmen alles mit, was wir brauchen.
Tatsächlich unterhielten sich die Jungen oft darüber, ob der Krieg vorbei war oder nicht. Viele dachten, es sei an der Zeit zurückzukehren, und sie wurden erst davon abgebracht, als sich unsere Pläne bis zu den Ältesten herumsprachen. Eines Abends kam ein empörter Dut in unsere Unterkunft, die er noch nie zuvor betreten hatte.
– Der Krieg ist nicht vorbei!, tobte er. – Habt ihr den Verstand verloren? Wisst ihr, was euch im Sudan erwartet? Es ist schlimmer als je zuvor, ihr Dummköpfe. Hier seid ihr in Sicherheit, ihr werdet gut ernährt, und bald werdet ihr zur Schule gehen. Und das alles wollt ihr zurücklassen, um allein durch die Wüste zu marschieren? Ein paar von euch sind kaum größer als Katzen! Wir haben schon von zwei Jungen gehört, die das Lager mitten in der Nacht verlassen haben. Was meint ihr wohl, was aus denen geworden ist?
Wir kannten die Jungen, die fortgegangen waren, wussten aber nichts über ihr Schicksal.
– Sie sind gleich auf der anderen Flussseite von Banditen getötet
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