Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Ruf CNN an und sag denen, dass der Krieg wieder angefangen hat!«
Er ist außer Atem. Ich bitte ihn, ruhiger zu werden.
»Gerade ist eine Bombe hochgegangen. Oder eine Granate. Die haben uns gerade bombardiert. Eine riesige Explosion. Ruf CNN an und sag denen, die sollen Kameras schicken. Die Welt muss das erfahren. Bashir greift uns wieder an. Der Krieg ist zurückgekommen! Ich melde mich wieder. Ruf CNN an!«
Er legt auf, Achor Achor und ich starren uns an. Im Hintergrund waren Verkehrslärm zu hören, rege Betriebsamkeit und lauter undefinierbare Geräusche. Man muss davon ausgehen, dass Ajing, der ja in Juba ist, weiß, was dort vor sich geht. Mein Magen sackt mir in die Kniekehlen. Ich weiß nicht, ob ich es durchstehen könnte, wenn der Krieg wieder beginnen würde, selbst hier in den Vereinigten Staaten, wo ich nicht gefährdet wäre. Ich glaube, keiner von uns. Wir leben nur, weil wir wissen, dass im Südsudan ein Wiederaufbau möglich wurde, dass unsere Familien außer Gefahr sind. Aber das, ein Zurück zum Blutvergießen und Wahnsinn – diese Last werde ich ganz sicher nicht tragen können.
»Sollen wir wirklich CNN anrufen?«, fragt Achor Achor.
»Warum gerade wir?«, frage ich.
»Wir leben in Atlanta. Du hast Ted Turner kennengelernt.«
Da hat er recht. Ich beschließe, zuerst Mary Williams anzurufen und erst dann weiter zu entscheiden. Ich wähle gerade ihre Nummer, als Achor Achors Handy erneut klingelt. Ich gehe ran.
»Valentino, tut mir leid. Ich habe mich geirrt. Gott sei Dank!« Ajing atmet noch immer schwer und scheint den Rest seiner Erklärung vergessen zu haben.
»Was?«, schreie ich. »Was ist denn passiert?«
Falscher Alarm, sagt er. Es habe eine Explosion in der Kaserne gegeben, aber das sei ein interner Unfall gewesen, ein Fehler, mehr nicht.
»Tut mir leid, dass ich dir Angst eingejagt habe, mein Freund«, sagt Ajing. »Wie geht’s dir eigentlich?«
Lino hat im Schlaf den Kopf nach hinten gegen die Wand gelehnt, und ich beobachte, wie er ihm allmählich nach rechts kippt, bis er zu schwer wird. Der Kopf fällt zur Seite, und Lino erwacht ruckartig, sieht mich und scheint einen kurzen Moment verblüfft, mich zu sehen. Er lächelt benommen, schläft dann wieder ein.
Eine Stunde ist seit Ajings Anruf vergangen, und Julian ist von einer älteren weißen Frau abgelöst worden, deren Haar in einer großen gelben Wolke von ihrer Stirn aufsteigt, um dann am Hinterkopf herunterzurollen. Ich fange ihren Blick auf. Als ich gerade auf sie zugehen will, um sie anzusprechen, steht sie auf und findet irgendetwas Dringendes, das sie im Nebenraum zu erledigen hat. Wir gelten hier nicht mehr als Patienten. Sie wissen nicht, was sie mit uns machen sollen. Wir sind Möbelstücke.
Und so bleibe ich bei Achor Achor sitzen.
Mit Tabitha wäre es elektrisierend gewesen, sieben Stunden in einem Wartezimmer zu sitzen. Wie viele Paare in den ersten Monaten der Liebe, gefielen wir einander selbst in den banalsten Situationen sehr gut. Wir machten eigentlich nichts, was man als glamourös oder auch nur fantasievoll bezeichnen könnte, schließlich hatten wir beide nicht genug Geld, um essen zu gehen oder uns irgendwelche Shows anzuschauen. Meistens blieben wir bei mir zu Hause und sahen uns Filme an oder auch nur Sportübertragungen. Als mein Corolla bei Edgardo in Reparatur war, verbrachten wir eine ganze Sommernacht damit, auf Busse zu warten und kreuz und quer durch die Stadt zu fahren. Es war eine Nacht des Wartens und des Neonlichts, und zugleich war es eine beinahe berauschende Nacht. Während wir in der Innenstadt, wo wir durch den Olympiapark spaziert waren, auf den Bus nach Hause warteten, schmiegte sie den Kopf an meinen Hals und flüsterte, wie gern sie mich küssen wolle, mir das Hemd ausziehen. Ihre Stimme war verführerisch am Telefon, überwältigend von Angesicht zu Angesicht und explosiv, wenn sie heiß in mein Ohr drang. Nie gab es eine solche Liebe in den Wartehäuschen von Atlanta.
Aber wenn wir getrennt waren, konnte sie unstet und launisch sein. Manchmal rief sie mich siebenmal am Tag an, und wenn ich an dem Tag nicht erreichbar war, wurden ihre Nachrichten immer aufgeregter, misstrauischer, sogar boshaft. Wenn zwischen uns dann endlich wieder alles im Lot war und unsere Telefonate wieder angenehmer verliefen, verschwand sie manchmal tagelang, stets ohne eine Erklärung. Und wenn sie wieder auftauchte, durfte ich nicht nachfragen, warum oder wohin sie verschwunden war. Oft fiel es
Weitere Kostenlose Bücher