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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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mir schwer, ihre Signale rechtzeitig und richtig zu deuten.
    »Spionierst du mir etwa nach?«, konnte sie in der einen Woche fragen, um in der nächsten laut darüber nachzudenken, ob es vielleicht umgekehrt war. Ihr Verhalten stellte mich vor derartige Rätsel, dass ich meine jugendliche Freundin Allison Newton um Rat fragte.
    »Klingt, als habe sie eine andere Flamme«, sagte sie, und ich glaubte ihr nicht. »Ist das klassische Verhalten in dieser Situation: Erst verschwindet sie, dann kommt sie zurück und versucht krampfhaft, es wiedergutzumachen, und schließlich verdächtigt sie dich, Sachen zu tun, die sie selbst tut.«
    Das war das letzte Mal, dass ich Allison in solchen Dingen nach ihrer Meinung fragte.
    Auf der Suche nach irgendetwas zu essen verlasse ich den Warteraum und gehe durch die lachsfarbenen Flure, vorbei an Fotos von ehemaligen Krankenhausleitern und Kunstwerken junger Leute. Da hängen Aquarelle und Pastellzeichnungen von Schülern einer hiesigen Highschool, und alle Bilder stehen zum Verkauf. Ich schaue mir jedes Einzelne an. Auf vielen sind Haustiere zu sehen, auf vieren Tupac Shakur und auf zweien führen wackelige Stege hinaus auf beschauliche Teiche. Die Bilderreihe endet an einem langen Fenster, durch das man den Wartebereich sieht. Der Raum ist dunkel, das Mobiliar burgunderrot und blau kariert. Ich sehe zwei Süßigkeitenautomaten und bin versucht, die Tür zu öffnen. Aber drinnen schläft eine ganze Familie auf einer Couch. Der junge Vater an einem Ende, den Kopf auf eine Sporttasche gelegt, die er auf der Lehne abgestellt hat. Neben ihm liegen eng aneinandergeschmiegt drei kleine Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, alle unter fünf. Zu ihren Füßen stehen kleine rosa Rucksäcke und auf dem Tisch die Reste eines Abendessens. Wahrscheinlich ist ihre Mutter krank. Hinter ihnen auf dem Parkplatz wird ein einzelner Baum von unten beleuchtet, sodass die blattlosen Zweige rosig schimmern. Aus meiner Perspektive sieht es aus, als schliefe die Familie unter dem Baum, beschützt von seinen großen ausgestreckten Ästen.
    Ich würde zwar gerne hineingehen und mir etwas zu essen ziehen, aber ich möchte sie nicht wecken. Stattdessen setze ich mich vor dem Raum hin und öffne mein Portemonnaie und ziehe das Blatt heraus, das ich immer dabeihabe, drei E-Mails von Tabitha. Ich hatte sie mir eines Abends ausgedruckt vor einem Telefongespräch, zu dem wir verabredet waren. Ich wollte mit ihr über ihre Launen sprechen, ihre widersprüchlichen Signale, und ich hatte vor, aus diesen drei E-Mails zu zitieren, die sie mir innerhalb von nur einer Woche geschickt hatte. An jenem Abend hatte ich nicht den Mut, sie zur Rede zu stellen, aber das Blatt trage ich noch immer zusammengefaltet im Portemonnaie mit mir herum, und ich lese die Mails, um mich zu strafen und mich daran zu erinnern, wie Tabitha sich ausdrückte, wenn sie schrieb – weit überschwänglicher, als wenn wir zusammen waren. Sie sagte fast nie »Ich liebe dich« zu mir, doch in ihren E-Mails, die sie in dunklen Stunden schrieb, hatte sie das Gefühl, es zu können.
    Die erste Mail:
    Mein Val,
    ich wollte nur eben sagen, dass ich dich liebe. Möge Gottes Geist unsere Liebe lebendig und süß erhalten. Ich liebe dich sehr, und mein Herz sieht immerzu dein lächelndes Gesicht. Ich liebe dein wunderschönes Lächeln, ich kann mir nicht vorstellen, mich je daran sattzusehen. Meine Liebe zu dir ist so groß, und ich kann gar nicht aufhören, an dich zu denken, weil du so süß bist, so lieb, anrührend, freundlich, liebenswert, respektvoll und wunderbar. Ich habe mich die ganze Woche schrecklich nach dir gesehnt. Unser kurzes Gespräch hat nicht für eine Woche gereicht.
    Ich dachte, du würdest mich anrufen, aber ich wurde nicht angerufen. Ich weiß nicht, ob du es versucht hast oder nicht.
    Ich liebe, liebe, liebe dich,

Tabitha
    Die zweite Mail, zwei Tage später:
    Hi Val,
    ich weiß nicht, ob du mich gestern angerufen hast oder nicht. Nur damit du Bescheid weißt, mir sind gestern beim Sport Handy, Make-up und Lotion gestohlen worden. Ich habe den Anschluss sperren lassen, bis ich ein neues habe. Ich weiß nicht, wie lange das dauert.
    Mir geht’s gut, das Ganze hat mich nur ein bisschen durcheinandergebracht. Ich bin auch unsicher, weil ich nicht weiß, ob wir zusammen sein sollten. Atlanta ist so weit weg, und manchmal finde ich, wenn dir wirklich etwas an mir läge, würdest Du hierher ziehen. Du weißt, dass ich nicht zu dir ziehen kann,

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