Weit Gegangen: Roman (German Edition)
vor ihnen auf dem Boden stattfand. Es sah aus wie eine Art Ringkampf, obwohl nur einer der beiden Beteiligten eine Uniform trug und nur einer sich bewegte. Die andere Gestalt trug ein Gewand in den Farben der Anuak, und sie schrie wie eine Frau auf. Erneut wechselten wir die Richtung.
– Er besuchte das Mädchen häufig; sie war nicht älter als du, mein Sohn. Sie beteten zusammen, und sie sprachen über ihre Blindheit. Sie war erblindet, als sie noch ganz klein war.
Wieder legte er mir die flache Hand auf den Kopf, und wieder fühlte es sich an wie zu Hause sein.
– Aber als der Gefängniswärter von den Bemühungen des Priesters erfuhr, wurde er wütend. Seine Tochter brachte das Wort Gottes in das Haus ihres Vaters, und damit war Valentinos Schicksal besiegelt. Er wurde eingesperrt, er wurde gefoltert. Doch die Tochter wusste, wo er eingekerkert war, und sie kam den Priester besuchen. Er war an den Boden gekettet, und dennoch beteten sie, und sie schlief viele Nächte direkt vor seiner Zelle. Und in einer dieser Nächte, als sie vor dem Schlafengehen beteten, kam plötzlich ein helles Licht in die Zelle. Es drang durch die Gitter und umwirbelte Valentino und das Mädchen. Der Priester wusste nicht recht, ob es ein Engel war, aber er zog die Tochter des Gefängniswärters an sich und hielt sie fest, und nachdem das Licht wie eine Schwalbe durch die Zelle gekreist war, verließ es sie wieder durch das vergitterte Fenster, durch das es gekommen war. Der Priester und die Tochter des Gefängniswärters blieben in der Dunkelheit zurück.
– Was war das?, fragte ich.
– Es war ein Gesandter Gottes, mein Sohn. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Als die Tochter am anderen Morgen erwachte, konnte sie wieder sehen. Sie war von Geburt an blind gewesen, aber jetzt konnte sie wieder sehen. Wegen dieses Wunders wurde Pater Valentino enthauptet.
Ich fragte Pater Matong, warum dieser Mann sein Lieblingsheiliger war und warum er mir seinen Namen gegeben hatte. Die Antwort war mir noch nicht klar, obwohl Pater Matong an diesem Punkt bestimmt davon ausgegangen war. Er nahm seine Hand von meinem Kopf.
– Ich denke, du wirst die Kraft haben, die Menschen sehend zu machen, sagte er. – Ich denke, du wirst dich daran erinnern, wie es hier gewesen ist, und du wirst die Lehren darin erkennen. Und eines Tages wirst du deine eigene Gefängniswärtertochter finden und ihr das Licht bringen.
XVIII.
Die meisten Prophezeiungen bleiben unerfüllt. Und das ist auch gut so. Es dauerte viele Jahre, bis die Erwartungen, die Pater Matong in mich setzte, bei mir gedanklich in den Hintergrund traten. Aber Gott sei Dank taten sie es. Nachdem dieser Druck weggefallen war, hatte ich eine Zeit lang einen so klaren Kopf wie seit Jahren nicht mehr.
Es ist nach Mitternacht, und Lino schläft. Julian, der es bestimmt satthat, unsere Gesichter zu sehen, und nicht fähig oder willens ist, uns zu helfen, hat sich in ein Büro hinter der Empfangstheke zurückgezogen. Achor Achor sieht sich auf dem Fernseher oben an der Wand eine Dokumentation über Richard Nixon an. Er sieht sich jede Sendung über amerikanische Politik an oder über Politik im Allgemeinen. Er geht fest davon aus, dass er in einem neuen Südsudan, sollte der wirklich unabhängig werden, irgendein politisches Amt innehaben wird. Inzwischen sitzen viele Südsudanesen in der Regierung in Khartoum, aber Achor Achor will erst dann in den Sudan zurückkehren, wenn der Süden 2011 die Unabhängigkeit wählt, was das »Comprehensive Peace Agreement«, das Umfassende Friedensabkommen, erlaubt. Ob die National Islamic Front oder Omar al-Bashir, der Präsident des Sudan, das tatsächlich zulassen werden, bleibt abzuwarten.
Achor Achors Handy beginnt, auf dem Tisch zwischen uns zu vibrieren, und dreht sich gemächlich im Uhrzeigersinn. Während er noch seine Taschen durchsucht, nehme ich das Handy und halte es ihm hin. Angesichts der Uhrzeit bin ich ziemlich sicher, dass es ein Anruf aus Afrika ist. Achor Achor klappt das Telefon auf, und seine Augen weiten sich.
»Er ist was? In Juba? Nein!« Achor Achor springt auf und geht weg, an Julian vorbei. Lino rührt sich nicht. Ich folge Achor Achor, und er reicht mir das Handy.
»Ajing ist dran. Der dreht durch. Sprich du mit ihm.«
Ajing ist ein Freund von uns aus Kakuma, der jetzt für die neue Regierung des Südsudan arbeitet. Er lebt in Juba und macht eine Ausbildung zum Ingenieur.
Ich nehme das Telefon.
»Valentino! Ich bin’s, Ajing!
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