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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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zwischen den beiden Nationen.
    Ich verließ gerade die Kirche, als die Nachricht kam. Meine Kirche war in der Nähe der Niederlassung der äthiopischen Helfer, und als die Messe zu Ende war, sahen wir sie weinen, Frauen und Männer.
    – Die Regierung wurde gestürzt. Mengistu ist weg, klagten sie.
    Man sagte uns, wir sollten zusammenpacken, was wir konnten, und uns bereit machen zum Aufbruch. Als ich unsere Unterkunft erreichte, war sie bereits leer, die verbliebenen Neun waren schon ohne mich aufgebrochen und hatten einen Zettel zurückgelassen: Wir treffen uns am Fluss – die Neun. Ich stopfte möglichst viel der von mir gehorteten Lebensmittel und Decken in einen Maissack. Weniger als eine Stunde später hatten sich alle Jungen, Familien und Rebellen auf dem Feld versammelt, und dann begann der Auszug aus Pinyudo. Sämtliche Flüchtlinge aus dem Camp verteilten sich über die Landschaft, manche im Laufschritt, andere ruhig und unbeteiligt, wie auf einem Spaziergang zum Nachbardorf. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen.
    Der Regen war sintflutartig. Laut Planung sollten wir den Gilo River überqueren und uns auf der anderen Seite, vielleicht in Pochalla, neu sammeln. Am Ufer wurde klar, dass die Gruppen nicht gut eingeteilt waren. Der Regen, sein graues Chaos, spülte die letzte Hoffnung auf eine geordnete Evakuierung davon. Ich konnte die Neun am Fluss nirgends entdecken. Ich sah kaum Leute, die ich kannte. In der Ferne erblickte ich kurz Kommandant Gürtelschnalle, der oben auf einem Jeep saß und durch ein kaputtes Megafon dumpfe Anweisungen bellte. Der ganze Uferbereich war sumpfig, und die Gruppe, die durch das dreckige Wasser watete, war bis auf die Haut durchnässt. Als wir den Fluss erreichten, war er hoch und reißend. Bäume und Trümmer tanzten in der Strömung.
    Die ersten Schüsse klangen leise und fern. Ich drehte mich nach dem Geräusch um. Ich sah nichts, aber das Gewehrfeuer hielt an und wurde lauter. Die Angreifer waren ganz in der Nähe. Es kamen andere Geräusche hinzu, und ich hörte die ersten Schreie. Flussaufwärts spie eine Frau einen Schwall Blut aus, ehe sie leblos ins Wasser fiel. Sie war von einem unsichtbaren Angreifer erschossen worden, und die Strömung trug sie rasch auf meine Gruppe zu. Jetzt setzte Panik ein. Zu Zehntausenden sprangen wir in das seichte Wasser, wo doch viel zu viele von uns gar nicht schwimmen konnten. Am Ufer zu bleiben bedeutete den sicheren Tod, aber in diesen angeschwollenen wirbelnden Fluss zu springen war Wahnsinn.
    Die Äthiopier griffen zusammen mit ihren eritreischen Verbündeten an, und die Anuak taten das Ihrige. Sie wollten uns aus ihrem Land vertreiben, sie rächten sich für unzählige Verbrechen und Kränkungen. Die SPLA versuchte, das Land mit Jeeps und Panzern und einem Großteil der Vorräte zu verlassen, die die Äthiopier wohl als ihr Eigentum betrachteten, sodass sie einen Grund hatten, den Abzug der Rebellen verhindern zu wollen. Als der Himmel von Kugeln und Artilleriefeuer zerrissen wurde, beschleunigte sich alles, und das Sterben begann.
    Ich hatte zu lange im flachen Uferbereich gezögert, wo mir das Wasser bis zur Brust reichte. Überall um mich herum trafen Menschen eine Entscheidung: hineinspringen oder flussabwärts laufen, nach einer schmaleren Stelle suchen, einem Boot, einer Lösung.
    – Mach, dass du rüberkommst. Drüben sind wir sicherer.
    Ich drehte mich um. Es war Dut. Wieder vertraute ich mich Duts Führung an.
    – Aber ich kann nicht schwimmen, sagte ich.
    – Bleib bei mir. Ich zieh dich rüber.
    Wir suchten uns eine schmalere Stelle.
    – Sieh doch!
    Ich zeigte übers Wasser auf zwei Krokodile, die am Ufer lagen.
    – Wir haben keine Zeit, Angst zu haben, sagte Dut.
    Ich schrie. Ich war gelähmt.
    – Letztes Mal haben sie dich auch nicht gefressen, weißt du noch? Vielleicht mögen die keine Dinka.
    – Ich kann nicht!
    – Spring rein! Fang an zu schwimmen. Ich bin direkt hinter dir.
    – Und der Sack?
    – Lass ihn fallen. Du kannst ihn nicht tragen.
    Ich ließ den Sack fallen, alles, was ich besaß, und sprang hinein. Ich paddelte mit den Händen, als wären es Pfoten, bis zum Kinn im Wasser. Dut war neben mir. – Gut, flüsterte er. – Gut. Weiter so.
    Während ich mich durchs Wasser bewegte, spürte ich, wie ich von der Strömung flussabwärts getrieben wurde. Ich beobachtete die Krokodile, ließ sie nicht aus den Augen. Sie lagen völlig reglos da. Ich paddelte weiter. Hinter mir war eine große Explosion.

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