Weit Gegangen: Roman (German Edition)
sie belügen uns alle. Können wir sie einfach so lügen lassen? Können wir zulassen, dass sie uns in die Augen sehen und mit ihrer Heimtücke die Zukunft unserer neuen Nation bedrohen?
– Nein!, brüllten wir.
– Können wir einen solchen Verrat ungestraft lassen?
– Nein!, brüllten wir.
– Gut, ich bin froh, dass ihr das auch so seht.
Und nach diesen Worten traten die Soldaten vor, jeweils zwei hinter jeden Gefesselten. Sie richteten ihre Gewehre auf Kopf und Rücken der Männer, und sie feuerten. Die Schüsse durchschlugen die Männer, und Staub stieg von der Erde auf.
Ich schrie. Eintausend Jungen schrien. Sie hatten diese Männer getötet.
Aber einer war nicht tot. Der Kommandeur zeigte auf den Gefangenen, der noch mit den Beinen schlug und atmete. Ein Soldat trat zu ihm und schoss erneut, diesmal traf er ihn ins Gesicht.
Wir wollten weglaufen. Die ersten Jungen, die versuchten, den Paradeplatz zu verlassen, wurden von ihren Lehrern niedergestoßen und mit Stockschlägen traktiert. Wir Übrigen standen einfach da, zu verängstigt, um uns von der Stelle zu rühren, aber das Schreien nahm kein Ende. Wir schrien nach den Müttern und Vätern, die wir seit Jahren nicht gesehen hatten, obwohl wir wussten, dass die meisten von ihnen tot waren. Wir wollten nach Hause. Wir wollten weg vom Paradeplatz, weg von Pinyudo.
Der Kommandeur beendete die Versammlung unvermittelt.
– Danke. Bis zum nächsten Mal, sagte er.
Jetzt rannten die Jungen in alle Richtungen auseinander. Manche klammerten sich zitternd und weinend an den erstbesten Erwachsenen, den sie finden konnten. Manche rollten sich einfach da, wo sie waren, auf der Erde zusammen und schluchzten. Ich drehte mich um, übergab mich und rannte weg, lief spuckend zum Haus von Mr Kondit, der bereits dort war, auf dem Bett saß und die Decke anstarrte. Noch nie hatte ich ihn so aschfahl gesehen. Er saß teilnahmslos da, die Hände schlaff auf den Knien.
– Ich bin so müde, sagte er.
Ich setzte mich vor ihm auf den Boden.
– Ich weiß nicht mehr, warum ich überhaupt hier bin, sagte er. – Alles ist so verworren.
Noch nie hatte ich erlebt, dass Mr Kondit irgendwelche Zweifel äußerte.
– Ich weiß nicht, ob wir das hier je hinter uns lassen werden, Achak. So jedenfalls nicht. Wir könnten es besser machen. Wir tun nicht unser Bestes.
Wir blieben so sitzen, bis die Dämmerung einbrach, und ich ging nach Hause zu der Elf, deren Reihen dezimiert worden waren. Jetzt waren wir die Neun. Zwei Jungen waren an diesem Nachmittag verschwunden und kamen nicht wieder.
Nach diesem Tag verzichteten viele Jungen darauf, an den Kundgebungen teilzunehmen, ganz gleich, zu welchem Zweck sie angeblich stattfanden. Sie versteckten sich in ihren Unterkünften, stellten sich krank. Sie gingen zum Hospital, sie liefen zum Fluss. Sie erfanden irgendwelche Gründe, um sich vor den Versammlungen zu drücken, und weil die Teilnehmer nicht gezählt werden konnten, wurden sie nur selten dafür bestraft.
Nach den Exekutionen brodelte die Gerüchteküche. Den Männern waren viele Vergehen zur Last gelegt worden, doch im Lager wurde gemunkelt, dass diejenigen, denen man Vergewaltigung vorgeworfen hatte, unschuldig gewesen waren. Einer von ihnen war mit einer Frau davongelaufen, auf die ein ranghoher SPLA-Offizier ein Auge geworfen hatte, und der hatte daraufhin den Bräutigam der Vergewaltigung bezichtigt. Die Mutter der Frau, die gegen die Hochzeit war, tat sich mit den Anklägern zusammen und behauptete, die Freunde des Bräutigams hätten auch sie vergewaltigt. Der Fall wurde abgeschlossen und die Männer verurteilt. Danach blieb nur noch, die Männer vor den Augen von zehntausend Jugendlichen hinzurichten.
Ich war altersmäßig ganz nah dran, zur Ausbildung nach Bonga geschickt zu werden, Julian, doch dieses Schicksal blieb mir erspart, weil die äthiopischen Streitkräfte, die Präsident Mengistu stürzten, uns alle aus Pinyudo verjagten, alle vierzigtausend. Wie ich später erfuhr, hatte sich der Putsch schon eine ganze Weile angebahnt, und er sollte noch über Jahre für Probleme in Äthiopien sorgen. Das Ganze begann mit einem Bündnis unterschiedlicher äthiopischer Gruppen, die von eritreischen Separatisten unterstützt wurden. Die äthiopischen Rebellen brauchten die Hilfe der Eritreer und umgekehrt. Im Gegenzug versprach man den Eritreern die Unabhängigkeit, falls der Staatsstreich gelingen würde. Und er gelang tatsächlich, doch danach wurde es kompliziert
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