Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Ich drehte mich um und sah die Soldaten, die im Gras der Uferböschung knieten und auf uns schossen, während wir hinüberschwammen. Überall im Fluss sah ich die Köpfe von Jungen und um sie herum die Gischt des Wassers, die Trümmer, das Trommeln des Regens und der Gewehrkugeln. All diese Köpfe versuchten, über den Fluss zu kommen, während sie ihre Körper im Wasser versteckten. Überall wurde geschrien. Ich paddelte und strampelte. Dann sah ich wieder zu der Stelle am Ufer, wo ich die Krokodile zuletzt gesehen hatte. Sie waren weg.
– Die Krokodile!
– Ja. Wir müssen schnell schwimmen. Komm. Wir sind so viele. Wir haben einen mathematischen Vorteil. Schwimm, Achak, paddele einfach immer weiter.
Ganz in der Nähe ertönte ein Schrei. Ich schaute hin und sah einen Jungen im Rachen eines Krokodils. Der Fluss erblühte rot, und das Gesicht des Jungen verschwand.
– Schwimm weiter. Jetzt ist das Viech zu beschäftigt, um dich zu fressen.
Wir waren inzwischen halb über den Fluss, und ich hörte das Zischen unter dem Wasser und die Kugeln und Granaten, die die Luft spalteten. Jedes Mal, wenn meine Ohren unter die Wasseroberfläche sanken, ergriff das Zischen von meinem Kopf Besitz, und es klang nach Krokodilen, die auf mich zuschwammen. Ich versuchte, meine Ohren über Wasser zu halten, aber immer wenn ich den Kopf zu hoch reckte, sah ich gleich jedes Mal eine Kugel hinten in meinen Schädel einschlagen. Dann duckte ich mich wieder in den Fluss, nur um das kreischende Zischen unter Wasser zu hören.
Wahnsinnige Schreie kamen vom Ufer hinter uns herüber. Ich wandte mich um und sah einen Dinka mit einem Gewehr, der auf den Fluss hinausschrie. – Bringt mich rüber! brüllte er. – Bringt mich rüber! Direkt vor ihm war ein Mann im Fluss und schwamm weg. Ein anderer Mann hechtete hinein und schwamm los. Jetzt brüllte der bewaffnete Mann den beiden schwimmenden Männern nach: – Ich kann nicht schwimmen! Bringt mich rüber! Helft mir! Die beiden Männer schwammen weiter. Sie wollten nicht warten und dem bewaffneten Mann helfen. Da zielte der bewaffnete Mann mit seinem Gewehr auf die schwimmenden Männer und feuerte. Das war keine fünfzehn Meter von mir entfernt. Der bewaffnete Mann tötete einen der schwimmenden Männer, ehe seine eigenen Schultern rot aufplatzten, er war von äthiopischen Kugeln getroffen worden. Der Mann fiel zur Seite und landete mit dem Kopf im Matsch am Ufer.
Dass ich es über den Fluss schaffte, war pures Glück. Meine Füße stießen auf Grund, und ich zog mich ans Ufer. In diesem Moment explodierte eine Mörsergranate rund sechs Meter vor mir. Dut war nirgends zu sehen.
– Lauf ins Gras!
Wer sprach da?
– Komm schon!
Ich kletterte die Böschung hoch, und ein Mann packte meinen Arm. Wieder war es Dut. Er zog mich hoch und warf mich neben sich ins Gras. Wir lagen beide bäuchlings auf dem Boden und blickten zurück über den Fluss.
– Wir können hier nicht weg, sagte er. – Die würden uns sehen und aufs Korn nehmen. Im Augenblick beschießen sie den Bereich direkt am Fluss, deshalb sind wir hier am sichersten.
Wir blieben dreißig Minuten auf dem Bauch liegen, während andere die Böschung hoch hasteten und an uns vorbeirannten. Von der hohen Uferböschung aus konnten wir alles sehen, konnten wir viel zu viel sehen.
– Mach die Augen zu, sagte Dut.
Ich sagte, das würde ich, und drückte das Gesicht in die Erde, aber insgeheim beobachtete ich das Gemetzel dort unten. Tausende von Jungen und Männern, Frauen und Babys überquerten den Fluss, und die Soldaten töteten sie wahllos, manchmal auch gezielt. Auf unserer Seite des Flusses waren einige wenige SPLA-Soldaten, die zurückschossen, doch zum überwiegenden Teil waren sie bereits geflohen und hatten die sudanesischen Zivilisten allein und schutzlos zurückgelassen. So konnten sich die Äthiopier ihre meist unbewaffneten Ziele frei aussuchen. Und bei all dem Chaos schlugen sich die Anuak nun auf die Seite der äthiopischen Armee. An jenem Tag brach sich die ganze angestaute Aggression der Anuak Bahn, und sie jagten die Sudanesen mit Macheten und den wenigen Gewehren, die sie besaßen, von ihrem Land. Sie hackten auf diejenigen ein, die zum Fluss rannten, und schossen auf sie wie auch auf diejenigen, die mit wild schlagenden Armen durchs Wasser schwammen. Granaten explodierten und jagten meterhohe weiße Rauchsäulen in die Luft. Frauen ließen ihre Babys im Fluss los. Jungen, die nicht schwimmen konnten, ertranken
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