Weit Gegangen: Roman (German Edition)
einfach. So manche fliehende Frau, die sich eben noch rasch durchs Wasser bewegt hatte, konnte einen Moment später, nach einem Kugelhagel oder einer Granatenexplosion reglos flussabwärts treiben. Einige der Toten wurden von Krokodilen gefressen. Der Fluss führte viele Farben an jenem Tag, grün und weiß, schwarz und braun und rot.
Als es dunkel wurde, verließen Dut und ich die Uferböschung. Wir waren noch nicht weit gelaufen, als etwas ganz Seltsames passierte: Ich sah Achor Achor. Er stand einfach nur da, in der Mitte des Pfades, blickte nach links und nach rechts, unschlüssig, wohin er gehen sollte. Dut und ich wären fast in ihn hineingerannt.
– Gut, sagte Dut. – Jetzt seid ihr zu zweit. Wir treffen uns in Pochalla.
Er kehrte zum Fluss zurück, um nach Verletzten und Verirrten zu suchen. Wir sahen Dut Majok nie wieder.
– Wohin gehen wir?, fragte ich.
– Woher soll ich das wissen?, sagte Achor Achor.
Es war keine Richtung vorgegeben. Das Gras war noch hoch, und ich hatte Angst vor den Löwen und Hyänen, die darin versteckt waren. Kurz darauf stießen wir auf zwei andere Jungen, die ein paar Jahre älter waren als wir. Sie schienen stark zu sein, und immerhin blutete keiner von ihnen.
– Wo wollt ihr hin?, fragte ich.
– Pochalla, sagten sie. – Da sind jetzt alle. Wir machen in Pochalla Rast und sehen dann, wie es weitergeht.
Wir gingen mit ihnen, obwohl wir ihre Namen nicht kannten. Wir vier rannten, und Achor Achor und ich hatten das Gefühl, dass es gut war, mit diesen Jungen zu rennen. Sie waren schnell und entschlossen. Wir rannten durch die Nacht, durch das nasse Gras und es roch nach Feuer. Der Wind war stark und trieb uns Rauch entgegen und peitschte das Gras um uns herum. Ich hatte das Gefühl, als würde ich immer so weiter rennen, als müsste ich immer rennen und als könnte ich immer rennen. Ich war nicht müde, es war, als könnten meine Augen in der Nacht alles sehen. Ich fühlte mich sicher mit diesen Jungen.
– Kommt her!, sagte eine Frauenstimme.
Ich schaute mich um und sah eine äthiopische Frau in Soldatenuniform.
– Kommt her, ich helfe euch, Pochalla zu finden!, sagte sie. Die anderen Jungen gingen auf sie zu.
– Nein!, sagte ich. – Seht doch, was sie anhat!
– Habt keine Angst vor mir, sagte sie. – Ich bin bloß eine Frau! Ich bin eine Mutter, die versucht, euch Jungen zu helfen. Kommt her zu mir, Kinder! Ich bin eure Mutter! Kommt zu mir!
Die unbekannten Jungen liefen auf sie zu. Achor Achor blieb bei mir. Als sie sechs Meter von ihr entfernt waren, bückte sich die Frau, hob ein Gewehr hoch, das sie im Gras verborgen hatte, und schoss dem größeren Jungen mitten ins Herz. Ich sah, wie die Kugel aus seinem Rücken austrat. Sein Körper ging in die Knie, fiel dann zur Seite, und sein Kopf schlug noch vor der Schulter auf.
Ehe irgendjemand losrennen konnte, schoss die Frau erneut und traf den Arm des anderen starken Jungen. Durch den Aufprall wurde er herumgeschleudert und fiel hin. Als er hochkam und weglaufen wollte, schickte eine letzte Kugel, die ihn im Rücken traf und aus dem Brustbein austrat, den Jungen augenblicklich in den Himmel.
– Lauf!
Das war Achor Achor, der an mir vorbeirannte. Ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. Ich war noch immer ganz gebannt von der Frau, die jetzt ihr Gewehr auf mich richtete.
– Lauf!, sagte er wieder, und diesmal riss er von hinten an meinem Hemd. Wir rannten los, hechteten ins Gras, krochen dann weiter und stürzten weg von der Frau, die noch immer hinter uns herrief.
– Kommt zurück!, rief sie. – Ich bin eure Mutter, kommt zurück, meine Kinder!
Wo auch immer Achor Achor und ich hinliefen, die Menschen liefen vor uns weg. Die Nacht kannte kein Vertrauen. Niemand wartete ab, um herauszufinden, wen er vor sich hatte. Als es dunkler wurde, verstummten die Schüsse. Wir nahmen an, dass die Äthiopier uns nicht nach Pochalla verfolgen würden, dass sie die Sudanesen nur aus ihrem Land vertreiben wollten.
– Sieh mal, sagte Achor Achor.
Er zeigte auf zwei lange Grashalme, die quer über dem Pfad zusammengeknotet waren.
– Was bedeutet das?
– Das bedeutet, dass wir nicht da langgehen. Irgendwer warnt uns, dass der Weg nicht sicher ist.
Wann immer wir vor uns auf dem Pfad gekreuzte Grashalme sahen, änderten wir die Richtung. Die Nacht wurde sehr still, und bald war der Himmel pechschwarz. Achor Achor und ich gingen stundenlang, und weil wir so viele Wege mieden, hatten wir bald den
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