Weit Gegangen: Roman (German Edition)
fragte Gop.
Ich wusste es nicht.
– Die Tinte ist eine sichere Methode, dafür zu sorgen, dass die Sudanesen vernichtet werden.
Ich sagte nichts, und er erklärte, was er meinte. Wenn die UN uns Dinka nicht töteten, während wir in Schlangen auf die Zählung warteten, so mutmaßte er, dann würden sie uns mit der Tinte an unseren Fingern töten. Wie sollte die Tinte entfernt werden? Sie würde, so glaubte er, in unseren Körper eindringen, wenn wir aßen.
– Das kommt mir ganz so vor wie das, was sie mit den Juden gemacht haben, sagte Gop.
In diesen Tagen wurde viel über die Juden gesprochen, was eigenartig war, denn schließlich hatten die meisten Jungen, die ich kannte, bis vor Kurzem noch geglaubt, die Juden seien ein ausgestorbenes Volk. Ehe ich in der Schule vom Holocaust erfuhr, hatte man uns in der Kirche recht plump beigebracht, die Juden hätten mitgeholfen, Jesus Christus zu töten. Dabei war nie die Rede davon gewesen, dass die Juden ein Volk waren, das noch immer die Erde bewohnte. Wir hielten sie für mythische Wesen, die außerhalb der biblischen Erzählungen nicht existierten.
In der Nacht vor der Zählung wurde der ganze, fast eine Meile lange Zaun niedergerissen. Niemand bekannte sich dazu, aber viele waren insgeheim froh.
Schließlich ließen sich die sudanesischen Ältesten nach zahllosen Besprechungen mit der kenianischen Lagerleitung davon überzeugen, dass die Zählung legitim und notwendig war, um die Flüchtlinge besser zu betreuen. Die Zäune wurden wieder aufgestellt, und wenige Wochen später fand die Zählung statt. Doch diejenigen, die sich vor der Zählung gefürchtet hatten, sahen sich insofern bestätigt, als nichts Gutes dabei herauskam. Nach der Zählung gab es weniger Essen und weniger Betreuung, und einige kleinere Programme wurden sogar eingestellt. Als man mit Zählen fertig war, hatte sich die Bevölkerung von Kakuma an einem einzigen Tag um achttausend Menschen verringert.
Wie kam es, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk unsere Zahl vor der Zählung so falsch eingeschätzt hatte? Der Grund dafür war das sogenannte Recycling. Recycling war beliebt in Kakuma und wird in den meisten Flüchtlingslagern praktiziert. Jeder Flüchtling irgendwo auf der Welt weiß, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Im Grunde bedeutet er, dass jemand das Lager verlassen und als andere Person wieder hineinkommen kann, wobei er seine alte Lebensmittelkarte behält und eine neue bekommt, wenn er unter anderem Namen ins Lager zurückkehrt. Fortan kann der Recycler doppelt so viel essen wie zuvor, oder er kann sich, falls er seine zusätzlichen Rationen lieber eintauscht, alles, was er benötigt, aber von den UN nicht bekommt, kaufen oder sich sonst wie besorgen – Zucker, Fleisch, Gemüse. Der Handel mithilfe doppelter Lebensmittelkarten lieferte die Grundlage für eine riesige Sekundärwirtschaft in Kakuma und bewahrte Tausende von Flüchtlingen vor Anämie und deren Folgeerkrankungen. Die Verwalter von Kakuma gingen also stets davon aus, dass sie achttausend Menschen mehr verpflegten, als tatsächlich da waren. Niemand hatte wegen dieser kleinen Täuschung ein schlechtes Gewissen.
Die Lebensmittelkarten ermöglichten es, Handel zu treiben, und die Fähigkeit unterschiedlicher Gruppen, das System zu manipulieren und von ihm zu profitieren, führte schon bald zu einer gewissen sozialen Hierarchie in Kakuma. Die Gruppe, die auf der Leiter ganz oben stand, waren wir Sudanesen, da wir allein zahlenmäßig das Lager dominierten. Aber auf individueller Basis stellten die Äthiopier die höchste soziale Kaste dar – ein paar Tausend Vertreter der Mittelschicht des Landes, die aus Mengistu vertrieben worden waren. Sie lebten in Kakuma I und hatten großen Anteil am florierenden Handel. Ihre geschäftlichen Konkurrenten waren die Somalis und Eritreer, die zu einer Koexistenz mit den Äthiopiern fanden, obwohl ihre Landsleute zu Hause miteinander zerstritten waren. Währenddessen bestanden Spannungen zwischen den Somalis und den Bantu, einer leidgeprüften Gruppe, die aus einem anderen kenianischen Lager namens Dadaab nach Kakuma gebracht worden war. Die Bantu waren zunächst in Mosambik versklavt worden und Anfang des 19. Jahrhunderts nach Somalia ausgewandert, wo sie zweihundert Jahre lang schikaniert wurden. Sie durften kein Land besitzen und hatten keinerlei Möglichkeit, ihre Interessen auf irgendeiner Ebene politisch zu vertreten. Als der Bürgerkrieg Somalia nach 1990 heimsuchte,
Weitere Kostenlose Bücher