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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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wie ihre Körper vielleicht noch nach dem Tod misshandelt worden waren. Also versuchte ich nicht sofort, zu dem Mann aus Marial Bai ins Krankenhaus zu kommen. Als ich eine Woche später hörte, dass er fort war, machte mich das nicht unglücklich.
    Die Zählung wurde angekündigt, während Gop auf die Ankunft seiner Familie wartete, und das raubte ihm endgültig den Seelenfrieden. Um uns gut betreuen, um uns ernähren zu können, mussten der UNHCR und die vielen Hilfsorganisationen in Kakuma wissen, wie viele Flüchtlinge im Lager waren. Daher gaben sie 1994 bekannt, dass sie uns zählen würden. Das Ganze würde nur ein paar Tage dauern, sagten sie. Ich bin sicher, die Organisatoren hielten das für ein ganz einfaches, notwendiges und unbedenkliches Vorhaben. Aber für die sudanesischen Ältesten war es alles andere als das.
    – Was haben die wohl vor?, wunderte sich Gop Chol.
    Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber schon bald begriff ich, was ihn und die Mehrheit der sudanesischen Ältesten zutiefst beunruhigte. Manche gebildeten Ältesten fühlten sich an die Kolonialzeit erinnert, als Afrikaner eine Art Ausweismarke am Hals tragen mussten.
    – Könnte die Zählung ein Vorwand für eine neue Phase der Kolonialisierung sein?, grübelte Gop. – Durchaus möglich. Sogar wahrscheinlich!
    Ich sagte nichts.
    Gleichzeitig gab es praktische, weniger symbolische Gründe, die Zählung abzulehnen, zum Beispiel die Tatsache, dass viele Älteste glaubten, unsere Rationen würden danach verkleinert, nicht vergrößert. Falls sich am Ende herausstellte, dass wir weniger waren als angenommen, würden die Lebensmittelspenden aus der übrigen Welt schrumpfen. Die drängendere und weit verbreitete Angst bei Jung und Alt in Kakuma war die, die Zählung würde den UN die Möglichkeit bieten, uns alle zu töten. Diese Angst wuchs, als die Zäune errichtet wurden.
    Die UN-Mitarbeiter hatten damit begonnen, ein Meter achtzig hohe Absperrungen aufzustellen. Die Zäune sollten dafür sorgen, dass wir einzeln zur Zählung gingen und somit auch nur einmal gezählt wurden. Selbst diejenigen unter uns, die sich bis dahin wenig Sorgen gemacht hatten, vor allem die jüngeren Sudanesen, bekamen es mit der Angst zu tun. Dieser Irrgarten aus Zäunen, orange und undurchsichtig, sah bedrohlich aus. Schon bald hegten auch die wirklich Gebildeten unter uns den Verdacht, dass das Ganze ein Vorwand war, die Dinka zu vernichten. Die meisten Sudanesen in meinem Alter hatten vom Holocaust gehört, und sie waren überzeugt, dass uns etwas Ähnliches bevorstand wie den Juden in Europa. Ich zweifelte daran, dass die wachsende Paranoia berechtigt war, doch Gop war ihr verfallen. Obgleich er ein vernünftiger Mann war, erinnerte er sich gut an all die Ungerechtigkeiten, die das Volk des Sudan erlitten hatte.
    – Was ist nicht möglich, Junge?, wollte er wissen. – Siehst du, wo wir sind? Dann sag mir, was heutzutage in Afrika nicht möglich ist!
    Aber ich hatte keinen Grund, den UN zu misstrauen. Immerhin ernährten sie uns in Kakuma schon seit Jahren. Es gab nicht genug zu essen, aber sie waren es, die für alle sorgten, und daher schien es unsinnig, dass sie uns nach all der Zeit töten wollten.
    – Ja, räumte er ein, – aber vielleicht sind ja jetzt keine Lebensmittel mehr da. Es gibt keine Lebensmittel mehr, es gibt kein Geld mehr, und Khartoum bezahlt die UN dafür, dass sie uns töten. Auf die Art bekommen die UN zweierlei: Sie sparen Lebensmittel ein, und sie bekommen Geld dafür, dass sie uns loswerden.
    – Aber wie wollen sie das erklären?
    – Das ist leicht, Achak. Sie sagen, wir hätten eine Krankheit gehabt, die nur Dinka bekommen können. Es gibt immer irgendwelche Krankheiten, die auf ein bestimmtes Volk beschränkt sind, und so wird es kommen. Sie werden sagen, es habe eine Dinka-Pest gegeben und dass alle Sudanesen tot seien. So werden sie rechtfertigen, dass sie uns bis auf den letzten Mann getötet haben.
    – Das ist unmöglich, sagte ich.
    – Ach ja?, fragte er. – War Ruanda unmöglich?
    Ich hielt Gops Theorie noch immer für fraglich, aber ich wusste auch, dass ich nicht vergessen sollte, wie viele sich freuen würden, wenn die Dinka tot wären. Daher war ich einige Tage unschlüssig, was ich von der Zählung halten sollte. Derweil wandte sich die allgemeine Stimmung immer heftiger gegen unsere Teilnahme, vor allem, als herauskam, dass jeder nach der Zählung seine Finger in Tinte tauchen sollte.
    – Wozu die Tinte?,

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