Weit Gegangen: Roman (German Edition)
internationalen Gemeinschaft profitiert hatten, die sich um uns kümmerte, in der Lage sein würden, einen neuen Sudan zu führen, wenn der Krieg vorbei war und der Südsudan die Unabhängigkeit erlangt hatte.
Aber es fiel uns schwer, diese Zukunft zu sehen, denn in Kakuma war alles Staub. Unsere Matratzen waren voller Staub, ebenso unsere Bücher und unser Essen. Man konnte keinen Bissen essen, ohne Sand zwischen den Backenzähnen knirschen zu spüren. Alle Kugelschreiber, die wir geliehen oder geschenkt bekamen, versagten schon nach kurzer Zeit den Dienst, weil der Staub sie verstopfte. Bleistifte waren die Regel, aber auch sie waren selten.
Mehrmals am Tag wurde ich ohnmächtig. Wenn ich zu schnell aufstand, wurde mein Gesichtsfeld an den Rändern dunkel und ich wachte auf dem Boden auf, seltsamerweise stets unverletzt. Ein Schritt ins Dunkel, so nannte Achor Achor das.
Achor Achor kannte sich besser mit den gerade angesagten Redewendungen der jungen Männer im Camp aus, weil er noch immer bei den Elternlosen lebte. Er teilte sich eine Unterkunft mit sechs anderen Jungen und drei Männern, die allesamt ehemalige SPLA-Soldaten waren. Einem der Männer, einem Zwanzigjährigen, fehlte die rechte Hand. Wir nannten ihn Finger.
Es gab nicht genug zu essen, und die Sudanesen, ein Volk von Bauern, durften im Lager kein Vieh halten, und die Turkana erlaubten es ihnen auch nicht außerhalb des Lagers. In Kakuma gab es keinen Platz, um Getreide anzubauen, und der Boden war landwirtschaftlich ohnehin kaum zu nutzen. In der Nähe der Wasserpumpen wurden ein paar Gemüsesorten gezüchtet, doch diese mickrigen Gärten reichten bei Weitem nicht aus, um die Bedürfnisse von vierzigtausend Flüchtlingen zu stillen, von denen viele unter Anämie litten.
Tag für Tag fehlten Schüler im Unterricht, weil sie krank geworden waren. Die Knochen von Jungen meines Alters wollten wachsen, aber unser Essen hatte nicht genug Nährstoffe. Die Folge waren Durchfall, Ruhr und Typhus. Zu Anfang wurde die Schule noch benachrichtigt, wenn ein Junge krank war, und die Schüler wurden aufgefordert, für den Jungen zu beten. Wenn der Junge dann in die Schule zurückkehrte, wurde er mit Applaus begrüßt, obwohl es manche Jungen gab, die lieber Abstand zu denen wahrten, die gerade krank gewesen waren. Wenn ein Junge nicht wieder gesund wurde, riefen unsere Lehrer uns vor dem Unterricht zusammen und sagten, dass sie eine schlechte Nachricht hätten, dass der betreffende Junge gestorben war. Manche von uns weinten dann, andere nicht. Oftmals wusste ich nicht genau, ob ich den Jungen gekannt hatte, und dann wartete ich einfach ab, bis die weinenden Jungen mit Weinen fertig waren. Dann ging der Unterricht weiter, und diejenigen unter uns, die den Jungen nicht gekannt hatten, ließen sich ihre kleine Genugtuung darüber, dass wir wegen des Todesfalls früher schulfrei bekommen würden, nicht anmerken. Ein toter Junge bedeutete einen halben Tag frei, und jeder Tag, an dem wir nach Hause gehen durften, um zu schlafen, bedeutete, dass wir uns ausruhen konnten und selber besser gegen Krankheiten gefeit waren.
Aber nach einer Weile starben zu viele Jungen, und die Zeit reichte nicht aus, um jeden einzelnen zu betrauern. Wer den toten Jungen gekannt hatte, trauerte für sich, während die Gesunden nur hofften, nicht selbst krank zu werden. Der Unterricht ging weiter, es gab keine halben Schultage mehr.
Das machte das Lernen schwierig und gute Schulleistungen nahezu unmöglich. Viele Jungen waren von allem so frustriert, dass sie einfach nicht mehr zum Unterricht gingen. Von achtundsechzig Jungen in meiner Mittelstufenklasse blieben in der Oberstufe nur achtunddreißig übrig. Dennoch, hier waren wir sicherer als im Sudan, und wir hatten nichts anderes. Ich war hungrig, aber auch jeden Tag dankbar, dass ich vorläufig nicht mehr Gefahr lief, von der SPLA rekrutiert zu werden. Es gab weniger Prügelstrafen, weniger Repressalien, überhaupt war alles weniger militärisch organisiert. Eine Zeit lang waren wir keine Samenkörner, keine Rote Armee mehr. Wir waren einfach nur Jungen, und nach einer Weile wurde im Lager auch Basketball gespielt.
Ich entdeckte das Basketballspiel in Kakuma und glaubte schon bald, dass ich sehr gut darin war, dass ich irgendwann wie Manute Bol in die Vereinigten Staaten gehen würde, um als Profi zu spielen. Basketball sollte im Lager nie so populär werden wie Fußball, aber es zog Hunderte Jungen an, die großen, schnellen, die
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