Weit Gegangen: Roman (German Edition)
kam manchmal sogar mit und bestand darauf, dass sie größere Rollen bekam und Miss Gladys ihr besondere Aufmerksamkeit widmete. All das hatte gut funktioniert, daher dachte ich, es würde auch bei dem Mann funktionieren, der Maria seine Tochter nannte, aber sie wollte nichts davon hören.
– Nein, nein. Vergiss es. So ein Mann ist er nicht, sagte sie.
Sie hatte nicht vor, sich gegen ihren Ersatzvater aufzulehnen, denn sie wusste, er würde sie schlagen. Und überhaupt, sagte sie, dass sie nicht mehr Theater spielen dürfe, sei noch ihre geringste Sorge. Es war ein Beweis für ihre Offenheit und ihr Vertrauen mir gegenüber, dass sie mir an dem Tag an der Wasserpumpe erzählte, vor drei Tagen ihre erste Periode bekommen zu haben. Als Jugendbetreuer hatte ich Zugang zu vielen Informationen über Gesundheit und Hygiene, daher wusste ich, was das körperlich für Maria bedeutete. Entscheidender aber war, dass ich auch wusste, was es in der sudanesischen Gesellschaft bedeutete: Sie galt von nun an als Frau. Wenn sudanesische Mädchen zum ersten Mal menstruieren, gelten sie als heiratsfähig und werden oft innerhalb weniger Tage einem Mann versprochen.
– Weiß das jemand?, fragte ich.
– Psst!, machte sie. – Noch nicht.
– Bist du sicher? Aber deine Mutter muss es doch wissen?
– Sie weiß es nicht, Schläfer. Sie hat mich danach gefragt, aber sie weiß es nicht. Ich bin sowieso noch zu jung. Sonst weiß keiner, dass ich sie bekommen habe. Also psst. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen. Vergiss, dass ich was gesagt habe.
Und damit ging sie davon.
An jenem Tag beschwor Maria mich, dass ich keiner Menschenseele etwas über ihren Zustand verriet. Sie wusste noch nicht, wie sie es vor ihren Ersatzeltern verbergen sollte, aber sie war fest entschlossen, es so lange zu tun wie nur eben möglich. Das war in Kakuma nicht außergewöhnlich, aber es war auch nicht an der Tagesordnung. Selbst Mädchen, die nicht bereit sind, eine arrangierte Ehe hinzunehmen, verbergen ihr Frausein nicht. Die meisten akzeptieren es, und manche feiern es. Es gibt im Südsudan einige Clans, die aus Anlass der ersten Periode eines Mädchens ein Fest veranstalten, an dem die Familie und Freier von nah und fern teilnehmen. Das Ereignis dient dazu, die Junggesellen aus der Gegend darauf hinzuweisen, dass ein Mädchen zur Frau geworden war. Manche Männer finden es ideal, ihre Braut bei dieser Gelegenheit auszuwählen, weil so ihre Unberührtheit gewährleistet ist.
Wenn ich schätzen müsste, wie alt Maria damals war, würde ich auf vierzehn tippen. Doch im Sudan ist das Alter unwichtiger als die Form und die Reife des Körpers einer Frau. Und selbst ich, der ich Maria schon kannte, als sie noch ein magerer Stock von einem Mädchen gewesen war, hatte die Veränderungen an ihr bemerkt. In einem anderen Leben, in dem sie nicht unter der Aufsicht eines zornigen Mannes gestanden hätte, der seine Investition belohnt sehen wollte, hätte ich vielleicht versucht, sie zu umwerben. Es gab kein Mädchen, mit dem ich mich so gut verstand, kein Mädchen, das mir in ähnlicher Weise wie die Verlängerung meiner eigenen Seele erschien. Aber Elternlose wie ich galten für junge Frauen wie Maria nicht als akzeptable Ehepartner. Wir kamen den Plänen ihrer Ersatzeltern nur in die Quere. Wenn ein junger Mann wie ich die Nähe zu einem Mädchen wie Maria suchte, wurde irgendwann unweigerlich gefragt, wie es um ihre Jungfräulichkeit bestellt war. Menschen wie Maria und ich konnten nur Freunde sein und selbst dann auch nur Freunde, die sich lediglich ab und an trafen.
Unter den Männern, die Kakuma nach begehrenswerten jungen Bräuten durchforsteten, zählten Soldaten und Kommandanten der SPLA zu den eifrigsten. Sie zogen häufig durchs Lager und schätzten anhand von Gerüchten und per Augenschein ein, welche jungen Frauen sie in ihre Familien aufnehmen könnten. Zudem suchten die Rebellen in Kakuma und anderen Lagern im Grenzgebiet zum Sudan nach Rekruten. Tausende potenzieller Soldaten lebten friedlich in unserem Camp, eine Tatsache, die bei den Rebellen zu Unverständnis und bei Männern meines Alters für grenzenlose Besorgnis führte.
Die Dominics der Theatergruppe hatten angefangen, ernsthaft darüber nachzudenken, sich der SPLA anzuschließen. Viele von uns fühlten sich in Kakuma nutzlos. Das war immer wieder der Fall, vor allem wenn die Rebellen große Siege errungen oder schlimme Niederlagen erlitten hatten. Dann diskutierten die jungen
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