Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Hauptrolle, eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wurde, und es machte ihr auf Anhieb Spaß. Wie beherzt sie sein konnte, wusste ich, immerhin hatte sie mir in der Nacht der verstreuten Sterne das Leben gerettet. Aber ich hatte nicht geahnt, dass sie die Seele einer Schauspielerin besaß.
Maria nahm auch am zweiten Treffen der Gruppe teil, aber ich erinnere mich nicht mehr richtig daran, was sie sagte oder tat, denn an diesem Tag hielt Miss Gladys Einzug. Als Miss Gladys auftauchte, gab ich meine ganze Autorität ab und brachte fortan kaum noch ein Wort heraus.
Miss Gladys war eine junge Kenianerin mit langem Hals und einer Vorliebe für bodenlange Röcke, die hinreißend schwangen, wenn sie ging. Sie gab gleich zu, dass sie keine große Theatererfahrung habe, und doch war sie in jeder Hinsicht ein Mensch der Bühne, eine Frau, die genau wusste, welche Macht in jedem von ihr gehauchten Wort, jeder ihrer Gesten lag. In ihrem Kopf und in Wirklichkeit gab es keinen Moment, in dem sie nicht beobachtet wurde.
Sie konnte sehr gut schreiben, erfuhren wir, da sie zwei Jahre in England studiert hatte, an der University of East Anglia, um das Englisch aufzupolieren, das sie auf Nairobis besten Privatschulen gelernt hatte.
– Was ist das für ein Akzent?, fragten wir uns hinterher.
– Klingt sehr gebildet.
– Eines Tages wird sie meine Frau, sagten wir.
Uns war schleierhaft, warum ein so königlicher und reiner Mensch wie Miss Gladys – sie schwitzte nie – sich ausgerechnet mit uns Flüchtlingen abgeben sollte. Dass sie unsere Gesellschaft tatsächlich auch noch genoss, und den Eindruck machte sie, überstieg gänzlich unser Fassungsvermögen. Sie lächelte die Jungen in der Gruppe auf eine Weise an, die nur als kokett bezeichnet werden konnte, und es war nicht zu übersehen, wie sehr sie sich über all die Aufmerksamkeit freute, die ihr zuteilwurde. Die Mädchen dagegen gaben sich redlich Mühe, sie trotzdem zu mögen.
Die Zielsetzung der Gruppe war es, unter ihrer Anleitung Einakter zu schreiben und aufzuführen, in denen die Probleme in Kakuma thematisiert und Lösungen angeboten wurden, die nicht unbedingt pädagogisch wertvoll sein mussten. Wenn zum Beispiel Unklarheiten bestanden, was die Risiken einer HIV-Infektion betraf, so gab es nicht die Möglichkeit, diese per Handzettel oder durch die Ausstrahlung öffentlicher Verlautbarungen auszuräumen. Wir mussten sie zuerst in unseren Theaterstücken unterhaltsam verpackt thematisieren und konnten dann nur hoffen, dass unsere Botschaften aufgenommen, verstanden und dann von einem zum anderen, von Mund zu Ohr weitergegeben würden.
Aber Miss Gladys konnte sich nicht merken, welcher Junge welcher war. Unter den zehn Jungen gab es einen namens Dominic Dut Mathiang, der mit Abstand der lustigste Junge in Kakuma war. Zumindest der lustigste sudanesische Junge. Ich wusste nicht, wie lustig die Ugander waren. Bei unserem ersten Treffen unter Leitung von Miss Gladys hatte sie schon bald einen Narren an Dominic Dut Mathiang gefressen und lachte über jeden seiner Scherze.
– Wie heißt du noch mal?, fragte sie.
– Dominic, sagte er.
– Dominic! Was für ein wunderschöner Name.
Und da sie sich die Namen der Übrigen einfach nicht merken konnte, war das Schicksal der Jungen in unserer Theatergruppe besiegelt. Sie sagte, sie habe ein schlechtes Namensgedächtnis, was offenbar stimmte. Die Mädchen sprach sie kaum mit Namen an, und anscheinend war Dominic der einzige Name, den sie problemlos abrufen konnte. So kam es, dass wir alle irgendwann Dominic hießen. Zuerst geschah es irrtümlich. Eines Tages sprach sie auch mich geistesabwesend mit Dominic an.
– Entschuldigung, sagte sie. – Ihr habt beide italienische Namen, richtig?
– Ja, sagte ich. – Meiner ist Valentino.
Sie bat um Verzeihung, nannte mich am nächsten Tag aber wieder Dominic. Mich störte das überhaupt nicht. Ich pflichtete ihr bei, dass unsere Namen sehr ähnlich seien. Ich pflichtete ihr so ziemlich in allem bei, was sie sagte, obwohl ich die Worte, die aus ihrem schönen Mund drangen, nicht immer verstand. Also nannte sie mich Dominic, und sie nannte die anderen Jungen Dominic, und irgendwann hörten wir auf, sie zu korrigieren. Sie begann einfach, uns alle Dominic zu nennen. Keinem von uns machte das etwas aus, und außerdem rief sie uns nicht sehr oft beim Namen. Wir ließen sie ohnehin nie aus den Augen, und sie musste nur ihre Augen mit den bemerkenswert langen und geschwungenen
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