Weit Gegangen: Roman (German Edition)
japanischen Schulkinder schrieben auf Englisch, und es war kaum zu sagen, wessen Englisch schlechter war. Man konnte sich drüber streiten, inwieweit der Informationsaustausch zwischen Kenia, Tokio und Kyoto überhaupt funktionierte, aber mir und den hundert anderen, die daran teilnahmen, war er wichtig. Nach einem Jahr schriftlichen Austauschs trafen die japanischen Jungen und Mädchen, die geschrieben hatten, eines Tages in Kakuma ein, blinzelten in den Staub und schirmten die Augen gegen die Sonne ab. Sie blieben drei Tage, besuchten unsere Klassenräume und schauten sich traditionelle Tänze in den sudanesischen und somalischen Lagerbereichen an, und ich war nicht sicher, ob es im Camp noch seltsamer zugehen könnte. Ich hatte Deutsche gesehen, Kanadier, Menschen, deren Haut so weiß war, dass sie wie Kerzen aussahen. Doch die Japaner kamen weiterhin und spendeten weiterhin und interessierten sich besonders für die Kinder und Jugendlichen im Lager, die natürlich rund 60 Prozent von Kakumas Bevölkerung ausmachten. Die Japaner bauten das Kakuma Hospital, wo die Fälle behandelt wurden, für die es nach Lopiding zu weit war. Sie bauten die öffentliche Bibliothek von Kakuma und spendeten Tausende von Basketbällen, Fußbällen, Volleybällen und Trikots, sodass die jungen Leute diesen Sportarten mit einem gewissen Maß an Würde und Stil nachgehen konnten.
Der Lutherische Weltverband, LWF, war Hauptförderer vieler kultureller Projekte und suchte sich seine Projektleiter unter Kenianern und Sudanesen. Als Erstes trat ich dem Rede-und Debattierklub des LWF bei, weil ich hoffte, so mein Englisch zu verbessern. Kurz darauf trat ich dem Projekt »Jugend und Kultur« bei, woraus sich schließlich ein richtiger Job für mich entwickeln sollte. 1997 wurde ich Jugendleiter von Kakuma I. Es war eine bezahlte Arbeit, etwas, das nur sehr wenige meiner Freunde und keines der Kinder aus meiner KakumaFamilie hatte. Jugend, das umfasste alle Altersstufen zwischen sieben und vierundzwanzig Jahren, und in unserem Teil des Camps waren das sechstausend Kinder und Jugendliche. Ich war der Mittelsmann zwischen dem UNHCR und diesen Kindern, und Achor Achor war von meiner Arbeit stärker beeindruckt als von meiner Tätigkeit als Beerdigungsjunge, Jahre früher.
– Ich bin für dich da, falls du mal Rat brauchst, sagte er.
Achor Achor hatte gerade eine Brille bekommen und sah sehr gelehrt und viel seriöser aus als vorher. Auf einmal klang alles, was aus seinem Mund kam, wie das gewichtige Ergebnis der gründlichen Erwägungen eines weitsichtigen Intellekts.
– Das werde ich, sagte ich.
Als Jugendleiter und Koordinator der Jugendaktivitäten in Kakuma I kam ich in Kontakt mit Miss Gladys, die schon bald alle Jungen in Kakuma kannten und die in einsamen nächtlichen Stunden ihre Fantasie beschäftigte.
Sie wurde Leiterin der Theatergruppe, bei der ich Mitglied war und einmal auch stellvertretender Regisseur, und zwar beim allerersten Treffen, als zwölf Teilnehmer erschienen, zehn Jungen und zwei Mädchen. Der LWF teilte uns mit, dass die erwachsene Mentorin und Leiterin erst zum zweiten Treffen erscheinen würde. Da ich ihre Vertretung übernehmen sollte, konnte ich auch versuchen, Maria zur Teilnahme zu überreden. Zwei Tage vor dem ersten Treffen ging ich nachmittags zu ihr und fand sie hinter der Unterkunft ihrer Adoptivfamilie, wo sie Wäsche aufhängte.
– Hallo, Schläfer, sagte sie.
Sie machte keinen Hehl aus ihrer schlechten Stimmung. Das tat sie nie. Wenn sie niedergeschlagen war, ließ sie die Schultern hängen und blickte so mürrisch, dass es schon fast komisch wirkte. Sie war seit Wochen nicht mehr in der Schule gewesen, der Mann, der als ihr Vater fungierte, hatte beschlossen, dass sich der Unterricht mit ihren häuslichen Pflichten nicht vereinbaren ließ. Seine Frau war schwanger, und er wollte, dass Maria stets für sie da war, wenn sie etwas brauchte. Er meinte, je mehr das Baby im Bauch seiner Frau heranwuchs, desto mehr Hilfe würde sie im Laufe der Wochen und Monate benötigen. Die Schule, so sagte er, sei ein Luxus, den sich ein Waisenmädchen wie Maria nicht leisten könne.
Weder Maria noch ich hegten die Hoffnung, dass sie auf Dauer Mitglied der Theatergruppe bleiben konnte, aber ich überredete sie, am ersten Treffen teilzunehmen. Wir trafen gemeinsam dort ein und lasen zusammen mit den anderen Teilnehmern laut die ersten Szenen eines Stücks, das Miss Gladys geschrieben hatte. Maria spielte die
Weitere Kostenlose Bücher