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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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bist du nicht gebunden, Val. Du bist nicht bloß ein sudanesischer Junge. Diese Beschränkungen musst du nicht hinnehmen. Du musst dich nicht an die Gesetze halten, die vorschreiben, wo jemand wie du hingehört, dass du bloß ein Produkt des Krieges bist, weil du eine sudanesische Haut und sudanesische Gesichtszüge hast, dass du bloß ein Teil dieser ganzen Scheiße bist. Sie sagen dir, geh von zu Hause weg und marschiere nach Äthiopien, und du tust es. Sie marschieren nach Kakuma, und du marschierst einfach mit. Immerzu machst du mit. Und jetzt sagen sie dir, du musst im Lager bleiben, bis sie dir erlauben, es zu verlassen. Verstehst du denn nicht? Welches Recht haben all diese Leute, das Leben einzugrenzen, das du leben könntest? Was gibt ihnen das Recht dazu? Dass sie zufällig als Kenianer geboren wurden und du als Sudanese?
    – Meine Eltern leben noch, Tabitha!
    – Das weiß ich! Glaubst du nicht, du könntest von Nairobi aus eher zu ihnen kommen? Du könntest arbeiten und Geld verdienen und von hier aus viel leichter nach Marial Bai kommen. Denk doch mal nach.
    Rückblickend erkenne ich, dass das, was sie an jenem Abend sagte, nicht unklug war, doch damals regte Tabitha mich auf, und ich hielt nicht viel von ihren Ansichten und von ihr selbst. Ich sagte ihr, ihre Argumente würden mich nicht dazu bringen, Gesetze zu brechen oder die Lebensqualität Tausender junger Menschen in Kakuma zu verschlechtern.
    – Ich habe kein Recht, anderen das Leben schwerer zu machen, sagte ich.
    Und damit war unser Gespräch beendet. Ich wanderte eine Zeit lang durch die Geschäfte und wusste nicht, ob ich Tabitha bald oder überhaupt je wiedersehen wollte. Sie war ein anderer Mensch, als ich zuvor geglaubt hatte. Sie erschien mir selbstsüchtig, verantwortungslos, kurzsichtig und unreif. Ich beschloss, um zehn Uhr einfach zu Charles’ Laden zu gehen, in der Hoffnung, dass Tabitha dort sein würde. Aber ich wollte auch nicht derjenige sein, der sie an der Flucht hinderte, falls sie sich dazu entschloss. Ich hoffte inständig, dass sie nicht weglief, wollte es ihr aber nicht ausreden. Dazu hatte ich kein Recht. Ich war sicher, dieser Abend würde das Ende unserer Liebesgeschichte bedeuten. Sie würde mich für einen unterwürfigen Angsthasen halten. Von Anfang an hatte ich befürchtet, dass Tabitha gefährlicheren Männern, als ich es war, den Vorzug gab. Ich stand, wie an so manchen Tagen, auf Kriegsfuß mit meinem gesetzestreuen Charakter. Über die Jahre hat mich meine Bereitschaft, diejenigen zufriedenzustellen, die das Sagen haben, viel zu oft in Schwierigkeiten gebracht.
    Es war allerdings zu früh, mir selbst oder Tabitha etwas Derartiges einzugestehen, also kehrte ich zu den Fahrrädern zurück, die mich an den Mann in der Wüste erinnerten. Ich dachte an diesen Mann und ertappte mich dabei, dass ich unbewusst mein Bein an der Stelle berührte, wo der Stacheldraht mich gebissen hatte. In dem Augenblick sah ich, dass Tabitha zurückgekommen war. Sie stürmte den Gang herunter auf mich zu, vorbei an den Ventilatoren und den Kaffeemaschinen und Handtüchern, und gleich darauf stand sie vor mir, nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
    – Du dummer Kerl!, schrie sie.
    Diesem Vorwurf hatte ich nichts entgegenzusetzen, denn er war zweifellos richtig.
    – Jetzt küss mich, verlangte sie.
    Sie war so wütend, wie ich sie noch nie erlebt hatte, auf ihrer Stirn bewegten sich Muskeln, von denen ich nicht gewusst hatte, dass es sie im Gesicht gab. Doch ihre Lippen waren gespitzt, und sie schloss die Augen und neigte mir den Kopf zu. Und sofort löste sich alles Schlechte, das ich über sie dachte, in Luft auf. Mein Magen und mein Herz stießen zusammen, aber ich beugte mich zu Tabitha hinunter und küsste sie. Ich küsste sie, und sie küsste mich, bis ein Verkäufer des Supermarkts uns aufforderte zu gehen. Sie machten zu, sagte er und zeigte auf seine Uhr. Es war zehn. Wir hatten uns vierzig Minuten lang dort zwischen den Fahrrädern geküsst, ihre Hände auf einen Lenker gestützt und meine auf ihre.
    An den nächsten Tag kann ich mich kaum erinnern. Tabitha musste ihn mit ihren Betreuern verbringen, und da Mike und Grace arbeiteten, war ich die meiste Zeit in ihrer Wohnung. Gelegentlich ging ich in der Gegend spazieren und versuchte, wenigstens für ein paar Sekunden nicht an unseren Kuss zu denken. Aber es war sinnlos. Ich durchlebte den Kuss wieder und wieder an dem Tag, tausendmal. In der Wohnung küsste ich den

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