Weit Gegangen: Roman (German Edition)
umentscheiden. Ich musste so tun, als sei ich stolz auf meine Entscheidung.
Wenn ich zurückdenke, kommt es mir sehr unromantisch vor, aber wir verbrachten fast die gesamten zwei Stunden in dem Supermarkt. Er war riesig, heller als das Licht der Sonne, und wir sahen mehr Lebensmittel, als ganz Kakuma in einer Woche hätte verzehren können. Er war auch eine Art Kaufhaus und Drogerie – so vieles an einem Ort. Es gab zwölf Gänge, manche mit Tiefkühltruhen voller Pizzen und Eiscremes, andere mit Regalen voller Haushaltsgeräte und Kosmetika. Tabitha sah sich die Lippenstifte an, die Haarpflegemittel, falsche Wimpern und Frauenzeitschriften; sie interessierte sich schon damals sehr für Kosmetika. In den Läden von Kakuma Town gab es Holzregale voller veraltet aussehender Sachen, nichts, was bunt verpackt war, nichts was so frisch und köstlich aussah wie das Angebot in diesem Supermarkt-Kaufhaus in Nairobi. Wir spazierten jeden Gang auf und ab, zeigten einander ein Wunder nach dem anderen: eine Wand mit Säften und Limonaden, ein Regal voller Süßigkeiten und Spielzeug, Ventilatoren und Klimageräten, ein Bereich weiter hinten, wo glänzende Fahrräder aufgestellt waren. Tabitha stieß einen kleinen Schrei aus und lief zu den Rädern für Kinder.
Sie setzte sich auf ein winziges Dreirad und betätigte die Hupe.
– Val, ich muss dich etwas Wichtiges fragen, sagte sie mit leuchtenden Augen.
– Ja?, sagte ich. Ich hatte solche Angst, sie könnte etwas von mir wollen, was ich noch nicht zu geben bereit war. Ich hegte schon lange die Befürchtung, dass Tabitha insgeheim erfahren in der Liebe war und zu schnell vorgehen würde, sobald wir allein waren. Dann würde herauskommen, dass ich keinerlei Erfahrung hatte. Als ich sie auf dem Dreirad sah, weckte das starke und unerklärliche Gefühle in mir.
– Lass uns weglaufen, sagte sie.
Damit hatte ich nicht gerechnet.
– Was? Wohin weglaufen?, fragte ich.
– Irgendwohin. Wir können hierbleiben. Einfach nicht nach Kakuma zurückkehren.
Ich sagte Tabitha, sie habe den Verstand verloren. Einen Moment lang sagte sie nichts, und ich glaubte, sie sei wieder zur Besinnung gekommen. Aber sie war noch längst nicht fertig.
– Val, verstehst du denn nicht? Mike und Grace rechnen damit, dass wir heute Abend verschwinden, zusammen. Deshalb haben sie uns allein gelassen.
– Mike und Grace rechnen nicht damit, dass wir verschwinden.
– Du hast Grace doch gehört! Sie hat gesagt, Nun geht schon! Wir können weglaufen und so sein wie sie. Würdest du nicht auch gern so leben wie die beiden? Wir können es, Val, du und ich.
Ich erklärte Tabitha, dass ich das nicht machen konnte. Ich war nicht der Ansicht, dass Mike und Grace mit unserem Verschwinden rechneten. Ich glaubte, sie würden sich große Sorgen machen, wenn wir wegliefen, und mit Sicherheit jede Menge Schwierigkeiten mit der Polizei und der Einwanderungsbehörde bekommen. Außerdem würde unsere Flucht allen genehmigten Ausflügen der Flüchtlinge in Kakuma ein Ende bereiten. Unsere Fahrt nach Nairobi wäre die letzte, die Jugendliche aus Kakuma je machen würden.
– Ach Val! Daran können wir jetzt nicht denken, sagte sie. – Wir müssen an uns selbst denken. Wir müssen schließlich leben, oder? Welches Recht haben sie, uns vorzuschreiben, wo wir leben sollen? Du weißt, dass das kein Leben ist in Kakuma. Wir sind dort keine Menschen, und du weißt es. Wir sind Tiere, wir sind eingesperrt wie Vieh. Findest du nicht, du hast was Besseres verdient? Wir beide? Wem oder was gehorchst du? Den Regeln der Kenianer, die nichts über uns wissen? Jeder wird das verstehen, Val. Sie werden uns in Kakuma bejubeln, und das weißt du. Sie rechnen nicht damit, dass wir zurückkommen.
– Das geht nicht, Tabitha. Es ist nicht richtig.
– Du bist nur einmal auf dieser Welt, und du willst so leben, wie diese Leute dich leben lassen? Für sie bist du kein Mensch! Du bist ein Insekt! Nimm dein Leben in die Hand.
Sie trat mir fest auf den Fuß.
– Wer bist du, Valentino? Woher kommst du?
– Ich bin aus dem Sudan.
– Wirklich? Inwiefern? An was in diesem Land erinnerst du dich noch?
– Ich werde zurückgehen, sagte ich. – Ich bin und bleibe Sudanese.
– Aber zuallererst bist du ein Mensch, Val. Du bist eine Seele. Weißt du, was eine Seele ist?
Sie konnte wirklich herablassend sein, zum Verzweifeln.
– Du bist eine Seele, die zufällig in der menschlichen Gestalt eines sudanesischen Jungen steckt. Aber daran
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