Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Ich schaltete durch die Kanäle, bis mir das Handgelenk wehtat. Ich weiß, dass das erste Licht den Himmel bleichte, als ich endlich zu Bett ging, und den ganzen nächsten Tag war ich wie betäubt.
Am nächsten Morgen entdeckte ich Grace weinend auf der Couch. Ich schlich leise ins Wohnzimmer. Sie hielt eine Zeitung in der Hand.
– Nein, nein, nein, sagte Grace, – Nein! Das kann doch nicht wahr sein!
Mike kam dazu und warf einen Blick auf die Zeitung. Ich blieb ängstlich stehen und fürchtete schon, es sei etwas Ähnliches passiert wie der Bombenanschlag auf die Botschaft. Als ich vorsichtig näher trat, sah ich das Bild einer Weißen in einem Auto. Sie war sehr hübsch und hatte rötlich braunes Haar. Da waren noch mehr Bilder von der Frau, wie sie afrikanischen Kindern Blumen überreichte, aus Flugzeugen stieg, auf dem Rücksitz von Cabrios saß. Ich vermutete, dass diese Frau, wer immer sie sein mochte, tot war.
– Wie furchtbar, sagte Mike, setzte sich neben Grace und zog sie zu sich. Ich sagte nichts. Ich wusste noch immer nicht, was geschehen war.
Grace wandte sich zu mir. Ihre Augen waren nass, geschwollen.
– Kennst du sie nicht?, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
– Das ist Prinzessin Diana. Aus England?
Wie Grace mir erklärte, hatte diese Frau Kenia sehr viel Geld und Unterstützung zukommen lassen und sie hatte sich für ein Verbot von Landminen stark gemacht. Sie sei ein wunderbarer Mensch gewesen, sagte sie.
– Ein Autounfall. In Paris, sagte Mike. Er war jetzt hinter Grace und schlang die Arme um sie. Sie waren das liebevollste Pärchen, das ich je gesehen hatte. Ich wusste, dass mein Vater meine Mutter liebte, aber offene Zärtlichkeiten wie diese kannte man in meinem Dorf nicht.
Den ganzen Tag weinten Menschen. Zehn von uns, Tabitha und die Somalis und die meisten Dominics, gingen durch die Stadt, und wo wir auch hinkamen, sahen wir Menschen weinen – auf den Märkten, vor den Kirchen, auf den Bürgersteigen. Es schien, als hätte die ganze Welt diesen Menschen namens Diana gekannt, und wenn die Welt sie wirklich gekannt hatte, dann war die Verbindung zwischen den Völkern der Erde enger, als ich geglaubt hatte. Ich fragte mich, ob die Menschen in England trauern würden, wenn Mike und Grace sterben würden. Damals war ich so verwirrt, dass ich mir vorstellte, sie würden es.
Meine Sinne waren vom Schlafmangel betäubt, und vielleicht war das gut so. Nach dem Mittagessen gingen wir ins Theater, um für die Vorstellung am nächsten Abend zu proben, und wenn ich wacher gewesen wäre, wäre ich vielleicht in Ohnmacht gefallen. Das Theater war gigantisch, ein üppig dekorierter Saal. Zuletzt hatten wir das Stück auf der nackten Erde von Kakuma aufgeführt, und das Publikum hatte vor uns auf dem Boden gesessen. In unserem Camp gab es keine richtige Bühne, und jetzt standen wir auf echten Kirschholzbrettern und blickten auf zwölfhundert Plüschsitze. Wir probten an dem Tag, obwohl die Stimmung bedrückt war. Alle Mitglieder unserer Truppe hatten von Dianas Tod erfahren und wer sie war, und sie heuchelten Trauer oder wurden wirklich von ihr angesteckt.
Wenn wir an dem Tag als ganze Truppe oder nur in kleinen Gruppen allein waren, sprachen wir davon, einfach dort zu bleiben. Wir alle wollten für immer in Nairobi leben. Niemand wollte zurück nach Kakuma, selbst diejenigen nicht, die dort Familie hatten, und wir spielten in Gedanken durch, wie wir es anstellen könnten. Es gab Pläne wegzulaufen, in der Stadt unterzutauchen, sich zu verstecken, bis sie die Suche nach uns aufgeben würden. Aber wir wussten, dass zumindest einige von uns geschnappt und hart bestraft werden würden. Und falls einer von uns weglief, würde das bedeuten, dass es für niemanden in Kakuma je wieder eine Fahrt nach Nairobi geben würde. Letzten Endes war uns klar, dass die einzige Lösung die war, Betreuer zu finden. Falls ein kenianischer Bürger sich bereit erklärte, für jemanden von uns oder einen anderen Flüchtling aus Kakuma die Betreuung zu übernehmen, konnte der Glückspilz bei diesem Betreuer wohnen, auf eine richtige kenianische Schule gehen und genauso leben wie die Kenianer.
– Du solltest Mike fragen, ob er dein Betreuer wird, drängte Dominic mich. – Ich wette, der macht das.
– Das kann ich ihn nicht fragen.
– Er ist jung. Er kann das machen.
Mir gefiel die Idee nicht. In Kakuma und auch später hatten so viele, die ich kannte, die Angewohnheit, die Großzügigkeit eines
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